Sie sind manchmal lang und spitzig, manchmal kurz und gerundet, teils glitzern sie in der Sonne, teils sind sie bunt – vor allem sind sie überall: Gelnägel. Was einst exotisch war, ist jetzt an den Händen vieler Frauen zu sehen. Nagelstudios sind in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Jedes Städtchen oder Shoppingcenter hat eines. Die Schweiz zählt heute gemäss dem Branchen- und Telefonverzeichnis von Swisscom rund 3400 Studios. Bloss 55 davon sind in einem Berufsverband. Wie viele Studios es noch vor ein paar Jahren waren, kann nicht gesagt werden.
Der Boom bedeutet nicht nur Gutes für die Angestellten: tiefe Löhne, mangelnde Hygienevorschriften, lange Arbeitstage – Ausbeutung. Eine neue Recherche des Schweizer Recherchekollektivs WAV im Auftrag der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) hat die Schattenseite der Branche beleuchtet.
Menschenhandel ist ein Begriff, der meist im Zusammenhang mit dem Rotlichtmilieu fällt. Dass diese Problematik aber auch am helllichten Tag an einer Shoppingmeile besteht, überrascht vielleicht in der Schweiz. Doch Billignagelstudios standen in den vergangenen Jahren im Ausland vermehrt mit negativen Schlagzeilen in den Medien. Etwa in Grossbritannien oder Deutschland. Gesprochen wird dabei von Netzwerken, die systematisch Menschen aus dem asiatischen Raum – vor allem aus Vietnam – zum Zweck der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft nach Europa bringen.
Die WAV-Recherche zeigt, dass viele Menschen zumindest zu Beginn selber den Entscheid zur Migration fällen. Gründe dafür seien unter anderem Armut sowie die Zerstörung von Lebensgrundlagen durch den Klimawandel.
Der Reiseweg führt sie oft über Russland und Deutschland. Die meisten wollen später in Grossbritannien arbeiten. Dazwischen arbeiten die Betroffenen in verschiedenen osteuropäischen Ländern, um ihre Schulden der Reise abzuzahlen oder etwa Geld für die nächste Etappe ihrer Reise zu sparen. «Werden die Schulden nicht bezahlt, kann das dazu führen, dass die Familien im Herkunftsland bedroht werden», sagt Lelia Hunziker, Geschäftsführerin FIZ.
Für Hunziker ist klar: Die Netzwerke machen nicht vor der Schweizer Grenze Halt. Die FIZ hat bisher zwei Mitarbeitende aus Nagelstudios beraten, die vermutlich Opfer von Menschenhandel sind. Dabei handelte es sich um eine Frau und einen Mann, beide mit vietnamesischer Staatsangehörigkeit. Weil es sich um laufende Verfahren handelt, könne Hunziker dazu nicht mehr sagen. Die beiden arbeiten aber nicht mehr in den Studios.
Das Problem: Die Branche ist kaum reguliert. Nageldesign ist kein geschützter Beruf und einen Gesamtarbeitsvertrag gibt es nicht. Auch braucht es keine Deutschkenntnisse. Die Einstiegshürde ist also tief. Die schwache Regulierung der Nagelbranche ist beim Berufsverband swissnaildesign.ch Thema. Der Verband hat von missbräuchlichen Arbeitsverhältnissen Kenntnis. «Die vietnamesischen Angestellten aus den Studios werden nach Europa geschleust», sagt Präsidentin Iris Kuchler. In einheimischen Studios sei das anders, diese würden in der Regel einheimisches Personal suchen.
«Wir erarbeiten aktuell Richtlinien für die Kantone», sagt Kuchler. Um der Situation, also den schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen, entgegenzuwirken, fehlen die gesetzlichen Auflagen.
Die Situation ist auch den Behörden nicht entgangen. Die Luzerner Polizei schreibt auf Anfrage:
Im Jahr 2021 wurden dort 39 Schwarzarbeitskontrollen durchgeführt. Dabei wurden fünf Verstösse gegen das Ausländerrecht sowie je zwei gegen das Quellensteuerrecht und das Sozialversicherungsrecht festgestellt.
Im Aargau hatte die Recherche des WAV bereits Auswirkungen. Sie führte dazu, dass die SP zusammen mit den Grünen einen Vorstoss im Kantonsparlament einreichte. Jetzt muss der Regierungsrat Stellung zu den Zuständen in Aargauer Studios nehmen.
Seit zwei Jahren setzt auch die Fremdenpolizei der Stadt Bern vermehrt den Fokus auf die Nagelbranche. «Uns ist aufgefallen, dass Nagelstudios mit billigen Preisen an bester Lage überall in der Stadt aufmachten», sagt Alexander Ott, Leiter der Berner Fremdenpolizei. Auf die Beobachtung folgten gezielte Kontrollen. Dabei wurden jedes Mal zwei bis drei Studios besucht. «Die Kontrollen waren ziemlich erfolgreich», sagt Ott. Erfolgreich? «In bis zu 80 Prozent der Kontrollen stellten wir Verstösse fest.»
Er zählt verschiedene Verstösse auf. Fehlende Aufenthaltsbewilligungen, keine Zulassung für die Arbeit im Betrieb und fehlende Verträge gehörten zu den häufigsten. «Zum Teil hat die Arbeitszeiterfassung gänzlich gefehlt.» Ob das aus Unwissen geschah? Für Ott ist klar: «Nein, das hat System. Auch waren Löhne oft nicht definiert – falls es überhaupt Lohn gab», sagt Ott.
Diese Beobachtung bestätigt ein vietnamesischer Nageldesigner in der Recherche des WAV. Einsteigerinnen und Einsteiger müssten eine drei- bis sechsmonatige «Ausbildung» absolvieren, ohne dafür Lohn zu erhalten. Später wird ein kleiner Lohn bezahlt. Laut Lelia Hunziker zwischen 50 und 4000 Franken pro Monat. Oft würden zudem Kost und Logis von den Arbeitgebenden vermittelt und verrechnet. «Das führt zu weiteren Abhängigkeiten», sagt Hunziker.
Eine telefonische Anfrage bei verschiedenen Nagelstudios in der Schweiz gestaltet sich als schwierig. In mehreren Studios wird das Telefongespräch gleich beendet mit der Begründung: «Der Chef ist nicht hier.» In einem Aargauer Studio fallen die Antworten knapp aus. Man habe ein paar Fragen – «Nein.» Ob der Chef im Studio ist? «Nein.» Im Hintergrund wird gesprochen, vermutlich auf Vietnamesisch. Nach dem fünften «Nein» übernimmt eine Mitarbeiterin: «Wir haben keine Zeit.» Das Gespräch ist beendet.
Der Geschäftsführer eines Studios im Kanton Zürich ist etwas gesprächiger. Er habe von der Recherche des WAV gehört – aber bei ihm laufe alles rund. Seine Mitarbeitenden würden für eine 70-Prozent-Anstellung einen Lohn von 2800 Franken erhalten. Ob sie lange Arbeitswochen hätten? «Nein, sie arbeiten etwa 28 Stunden pro Woche.» Je nachdem, wie viel Betrieb herrsche. Woher seine Mitarbeitenden seien? «Sie sind von Schweden und Tschechien.» Auf der Website sind aber Bilder von asiatisch gelesenen Mitarbeitenden zu sehen. «Ich weiss nicht, woher sie ursprünglich sind, aber sie haben alle europäische Staatsangehörigkeiten», antwortet der Geschäftsführer.
Bei Besuchen in den Studios fällt auf, dass viele der Mitarbeitenden nicht oder nur gebrochen Deutsch sprechen. Die Chefin oder der Chef gibt die Anweisungen, die Angestellten folgen – oft still. Gespräche werden häufig umgangen und nicht selten blickt die Chefin oder der Chef der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter prüfend über die Schulter. Alexander Ott sagt:
Eine traurige Angelegenheit findet Ott. «Die Arbeitnehmerinnen haben fast keine Chance, an ihre Rechte zu gelangen, aber verdienen hier dennoch mehr als in ihrer Heimat.» Das mache es umso schwieriger, mögliche Opfer des Menschenhandels zu identifizieren. «Es gibt wenige Opfer, die Aussagen machen möchten. Zum Teil fühlen sie sich gar nicht ausgebeutet», sagt Ott.
Auf der Fachstelle FIZ mache man die Erfahrung, dass die Betroffenen oft Angst hätten. Sie fürchten eine Ausschaffung und Gewalt oder ihre Familie im Herkunftsland wird bedroht.
Die Verstösse reichen oft nicht für eine Verurteilung aufgrund von Menschenhandel. Der Prozess sei lange und oft ohne befriedigendes Ergebnis. «Das Verfahren birgt für potenzielle Opfer von Menschenhandel grosse Risiken», sagt Lelia Hunziker. Trotzdem mache sie generell die Erfahrung, dass Betroffene, die geschützt und unterstützt werden, es wagen, gegen Täter auszusagen.
Darf man solche Billignagelstudios überhaupt noch besuchen? Geht es nach Alexander Ott, ist klar:
Viel mehr könne man als Privatperson nicht machen – ausser die Augen nicht zu verschliessen vor dieser Thematik.
Der Bund plant einen neuen, dritten Aktionsplan zur Bekämpfung des Menschenhandels in der Schweiz. Dies, weil beim zweiten Aktionsplan von 2017 bis 2020 noch nicht alle Massnahmen genügend gut umgesetzt wurden. In den Fokus wird unter anderem die Ausbeutung der Arbeitskraft rücken.