Im Jahr 2022 ist die Anzahl der antisemitischen Vorfälle erneut angestiegen. In der deutsch-, italienisch und rätoromanischsprachigen Schweiz sind im letzten Jahr 910 Vorfälle registriert worden (2021: 859). Dies geht aus dem am Dienstag publizierten Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) hervor.
Der Anstieg ist in erster Linie auf die Zunahme der Vorfälle im Online-bereich zurückzuführen. Die Anzahl antisemitischer Vorfälle in der realen Welt stieg nur leicht von von 53 auf 57. Dazu zählen Schmierereien, Beschimpfungen oder Zusendungen. Erstmals seit 2018 ist wieder eine antisemitische Tätlichkeit erfasst worden.
SIG und GRA beobachten die Herausbildung einer neuen «explizit staats- und gesellschaftsfeindlichen Subkultur». Diese habe sich aus der Corona-Massnahmen-Gegnerschaft heraus entwickelt und sei «von Verschwörungstheorien aller Art geradezu besessen», heisst es im Vorwort zum Bericht. Drei Viertel der 853 erfassten antisemitischen Vorfälle im Onlinebereich gehen auf diese Subkultur zurück.
In der Bevölkerung habe es schon immer Personen mit einer Affinität zu Verschwörungstheorien gegeben, sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG. Während der Coronapandemie hätten sich diese Kreise zu Gruppen zusammengeschlossen und ihre Ansichten in einem zunehmend geschlossenen Rahmen, vorzugsweise in Chatgruppen auf der Telegram-App, ausgetauscht. Fakten hätten je länger desto weniger eine Rolle gespielt, man habe sich zunehmend eine eigene Realität konstruiert.
Aus einzelnen Gruppen von Massnahmenkritikern sei eine regelrechte Subkultur entstanden, bei der Verschwörungstheorien nicht mehr vereinzelt auftreten, sondern das ganze Weltbild prägten. «Die Pandemie hat hier als Brandbeschleuniger gewirkt», sagt Kreutner.
Anders als vom SIG erhofft, habe die Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien mit dem Ende der Pandemiemassnahmen nicht abgenommen, sagt Kreutner. Im Gegenteil: Mit dem Ukraine-Krieg sei der Fundus an antisemitischen Theorien in dieser Subkultur nochmals grösser geworden.
Ob «Deep State», Zionisten, die Rothschilds oder das vor Jahrhunderten auf dem heutigen Staatsgebiet der Ukraine ansässige und teilweise zum Judentum konvertierte turkstämmige Volk der Chasaren: Im Kern gehe es bei all diesen Theorien um einen Kampf von Gut gegen Böse, bei denen eine kleine Elite versuche, die Welt aus den Fugen zu bringen, erläutert Jonathan Kreutner. Und bei dieser Elite, die an Pandemie oder Ukraine-Krieg schuld sei, handle es sich in der Mehrzahl der Verschwörungstheorien um die Juden: «Ein nicht unwesentlicher Teil der Realität dieser Subkultur fusst auf antisemitischen Vorstellungen.»
Das zeige sich auch daran, dass bei den antisemitischen Vorfällen im vergangenen Jahr im Gegensatz zu früher kein eindeutiger Auslöser (Trigger) auszumachen war. Früher hätten konkrete Ereignisse - etwa Spannungen im Nahostkonflikt - für eine Häufung antisemitischer Vorfälle gesorgt. «Heute haben wir mit dem Coronavirus und dem Ukrainekrieg zwei latente Trigger, welche in dieser neuen Subkultur permanent für die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungstheorien und Äusserungen sorgen.»
Die Attentate von Christchurch, Pittsburgh oder Hanau haben gemäss Kreutner die Gefahr aufgezeigt, die von solchen Subkulturen ausgehen könne: «Es besteht das Risiko, dass sich einzelne ihrer Mitglieder radikalisieren und in der realen Welt Gewalttaten ausüben.» Davor warnt auch der Nachrichtendienst des Bundes NDB.
Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus fordern mehr Unterstützung vom Bund für Beobachtungs-, Analyse- und Präventionsprojekte aus der Zivilgesellschaft. Ausserdem seien zusätzliche rechtliche Mittel zur Beobachtung und Verfolgung antisemitischer Hassrede und Verschwörungstheorien im Internet zu prüfen. Auch Social-Media-Plattformen, insbesondere Telegram, seien hier in der Pflicht. «Wir als zivilgesellschaftliche Organisationen mit beschränkten Mitteln können nicht dafür sorgen, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist», sagt Jonathan Kreutner: «Das ist die Aufgabe des Staates». (aargauerzeitung.ch)