Wenn sie kommen, ist die Natur noch unberührt. Elisabeth Klaus und Selina Probst sind Biologinnen, spezialisiert auf Botanik. Heute sind sie auf der Alp Schneit unterwegs, oberhalb von Schönried im Berner Oberland. Es ist ein sonniger Sommertag, unten im Tal liegt der Golfplatz. Oben, über der Krete, sind im Nachbartal die schroffen Flühe der Gastlosen zu erkennen. Eine Bergidylle mit einer bunten Wiese. Die Goldammer singt, Grillen zirpen, über den Blumen schaukeln Schmetterlinge.
Die beiden Botanikerinnen sind gekommen, um diese Schönheit in Zahlen zu fassen. Sie sollen prüfen, wie schützenswert die Pflanzenwelt auf Schneit ist. Wie viele Blumenarten finden sich hier, knapp über der Waldgrenze? Sind besonders seltene darunter, national oder kantonal geschützte? Die Antworten, die sie auf diese Fragen geben, werden Einfluss haben auf die Zukunft der Alp.
Denn hier ist Grosses geplant: Entlang der Bergflanke soll eine grosse alpine Solaranlage zu stehen kommen. Es ist einer der wichtigsten Standorte des Projekts SolSarine, das die Region Saanen-Gstaad mit erneuerbarer Energie aus der eigenen Region versorgen soll, damit diese zur «energieautarken Destination» wird. So schreibt es der Trägerverein «Impact Gstaad» auf seiner Website.
Für dieses Ziel wären Solarparks auf einer Fläche bis 2 Quadratkilometer für die vier Gemeinden nötig, was 0.6 Prozent der Gemeindeflächen ausmacht. Ein Teil davon soll auf der Alp Schneit zu stehen kommen; hier geht es um mehrere Dutzend Hektaren, die überbaut werden sollen. Und dies rasch: Bis 2024 muss die Baubewilligung vorliegen, damit bis Ende 2025 zumindest 10 Prozent der Anlage am Netz sind.
Denn nur dann gibt es Geld vom Bund. So hat es das Parlament 2022 mit dem Solarexpress beschlossen, damit die Schweiz rasch unabhängiger wird von ausländischen Energieträgern wie russischem Gas. 3.4 Milliarden Franken sind insgesamt bereitgestellt. Um dieses Tempo einhalten zu können, hat das Parlament wichtige Planungsauflagen gelockert und das Bewilligungsverfahren vereinfacht.
Was es nach wie vor braucht: eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für jedes einzelne Projekt. Dafür sind Probst und Klaus heute hier hochgefahren. Sie beschreiben den Lebensraumtyp und erfassen die Vegetation, wobei geschützte Arten besonders beachtet werden.
Etwas abseits vom Weg haben sich die Biologinnen auf die Wiese gesetzt - «direkt auf eine Distel», sagt Klaus und lacht. Im Umkreis von 3 Metern, auf rund 10 Quadratmetern, werden sie nun alle Arten bestimmen und ins Handy tippen: So sind sie für die weitere Arbeit an der UVP in einer App digital erfasst. Im Laufe des Tages werden sie im ganzen Gebiet weitere solche Testquadrate genau untersuchen.
«Beginnen wir bei A wie Arnika», sagt Probst. Die Art mit ihren gelben Blüten gehört zu den auffälligsten hier oben. Schön hellblau leuchtet daneben die Bärtige Glockenblume. Ein bisschen weniger auffällig, dafür umso seltener das Schwarze Männertreu, das an diesem Ort so noch nicht bestimmt wurde.
Auch die Gräser werden erfasst, dabei lassen sich manche Merkmale nur unter der Lupe erkennen: Feine Härchen an den Blättern oder die Form des Stiels etwa. Die Gräser sind zwar nicht besonders prachtvoll, sie definieren aber den Biotoptyp. «Das hier ist ein Borstgrasrasen», sagt Elisabeth Klaus, «das ist eigentlich ein verbreiteter Typ, der Standort hier ist aufgrund der geschützten Arten wertvoll.» 32 Arten bestimmen die Botanikerinnen auf den 10 Quadratmetern innert einer Dreiviertelstunde, darunter vier geschützte. Nebst dem Männertreu und dem Langspornigen Handwurz, eine auffällige Orchidee. «Diese Reichhaltigkeit macht das Gebiet hier schützenswert», sagt Klaus.
Schützenswert. Heisst das, dass hier also doch kein Solarpark entstehen kann? Nicht zwingend. «Weist die UVP schützenswerte Arten nach, muss die Bauherrschaft Ausgleichsmassnahmen finanzieren - etwa, indem möglichst in der näheren Umgebung vergleichbare Standorte ökologisch aufgewertet werden», erklärt Klaus. Es ist dann wohl auch eine Frage der Wirtschaftlichkeit, ob an einem solchen Standort investiert wird oder nicht.
Die UVP kann den Verlauf eines Projekts folglich stark beeinflussen. Stehen die Biologinnen und ihre Arbeitgeberin, die Forum Umwelt AG (Fuag), die im Auftrag der Initianten von SolSarine auf Schneit unterwegs sind, unter Druck? «Nein», sagt Elisabeth Klaus, «wir nehmen auf, was ist. Wir fügen keine Arten hinzu und lassen auch keine weg.»
Kommt hinzu, dass die Botanikerinnen nicht die Einzigen sind, die zur UVP beitragen. Zoologen erfassen die Fauna auf der Alp Schneit, die Vogelwelt und Insekten wie Tagfalter und Heuschrecken. Hinzu kommen unter anderem Abklärungen zur Hydrologie, Windsituation und zu Naturgefahren wie etwa Lawinen. All das zusammen wird zeigen, ob die Alp Schneit als Standort ökologisch, technisch und wirtschaftlich geeignet ist - und gegebenenfalls in das Baugesuch einfliessen.
Doch lässt sich schon sagen, wie sich die Überbauung der Alp mit Solarpanels auf die Pflanzenwelt auswirken wird? «Es wird sie sicher verändern», sagt Klaus, «allerdings haben wir dazu in der Schweiz noch nicht sehr viele Studien.» Probst macht einen Vergleich: «An Waldrändern, wo es auch mehr Schatten gibt, ist die Artenvielfalt geringer, da blühen nicht die gleichen Arten wie hier.» Es dürften also Arten verschwinden auf Schneit - welche und wie viele, ist wohl abhängig vom exakten Standort und davon, wie eng die Panels zu stehen kommen. Der Solarexpress ist auch eine Reise ins Unbekannte - mit Chancen und Risiken.
Klaus macht eine Güterabwägung: Der Bau von grossen Solaranlagen in den Alpen trage zur Energiewende bei, «da bin ich sicher nicht dagegen». Mit ihrer Arbeit leiste sie einen Beitrag dazu, besser abschätzen zu können, wie tief der Eingriff in die Natur an einem Ort sei und ob es allenfalls bessere Standorte gäbe. «Gestern waren wir im Gebiet Hornberg, wo es bezüglich Vielfalt und Schutzstatus der Arten aus meiner Sicht an einigen Stellen unproblematisch ist, eine Anlage zu installieren.»
Und hier auf Schneit? Probst nimmt eine Karte hervor, darauf sind mehrere bestehende Schutzgebiete eingezeichnet. «Wir haben hier national geschützte Flachmoore, die werden vom Projekt nicht überbaut», sagt Klaus. «Aber wir werden sicher Empfehlungen abgeben, etwa dass Stromleitungen, die in den Boden verlegt werden müssen, nicht durch solche Moorbereiche führen.» Auch dazu sei die UVP da: Dass die Bauarbeiten dereinst möglichst schonend durchgeführt werden.
Für die Initianten von SolSarine - und dem Vernehmen nach auch für den Kanton - ist Schneit derweil eines der Gebiete mit hoher Priorität. Das hat mit der Erschliessung zu tun: Die Strassen hinauf auf die Alp sind sehr gut ausgebaut, eine Hochspannungsleitung führt direkt über die Alp - neue Zuleitungen wären also kurz. Es sind just solche Faktoren, die dazu führten, dass das national bekannte, riesige Projekt Grengiols im Wallis nach grossen Ankündigungen immer mehr redimensioniert wurde: Dort fehlt es weitgehend an solcher Infrastruktur.
Im Berner Oberland setzte man hingegen früh auf die Strategie, Projekte an landwirtschaftlichen oder touristisch genutzten Standorten zu planen. Unter Federführung der Kantonsregierung haben schon erste Sitzungen mit Initianten, Umweltverbänden und Planern stattgefunden. Die Landbesitzer im Saanenland hat man damit überzeugt, dass die Panels auf hohen Stelzen zu stehen kommen, unter denen weiterhin Kühe weiden können. «Wenig Einschränkung für die Alp- und Landwirtschaft», lautet das Versprechen. Und den Umweltverbänden will man entgegenkommen, indem auch regionale Schutzgebiete, die weniger streng geschützt sind als die nationalen, nicht beeinträchtigt werden sollen.
Gleichwohl: Es ist ein Interessenkonflikt zwischen dem Schutz der Natur und den Ansprüchen der Energiewende, die nach dem Willen der Politik den Bau grosser Solarkraftwerke in den Alpen erfordert. Mittendrin stehen die beiden Biologinnen, die mit Sachkenntnis, Bestimmungsapp und Lupe dazu beitragen, dass trotz technologischer Aufbruchstimmung die Aspekte des Naturschutzes in der Planung ihren Platz erhalten.
Elisabeth Klaus hat gerade eine seltene Segge bestimmt - für den Laien ein unscheinbares Gras -, dann zeigt sie auf einen Purpurenzian. Und mit Blick auf die blühende Bergwelt sagt sie: «Wir haben den schönsten Beruf, den ich mir vorstellen kann.» Sie wird in den nächsten Wochen noch auf einigen Alpen unterwegs sein - als Vorbotin des Solarexpress.