Alles begann Anfang 2022. Damals lernte Peter Stocker auf einer Online-Dating-Plattform Samira* kennen, kurz darauf traf er sie zum ersten Mal. Nach dem Treffen sei für beide klar gewesen, dass sie nicht zusammenpassen würden, die Verabschiedung sei freundschaftlich gewesen, so Stocker. Dass ihn das Treffen noch Monate lang verfolgen würde, wusste er damals noch nicht. Gegenüber watson erzählt er seine Geschichte.
«Auf dem Nachhauseweg hat sie mir geschrieben, dass sie im Zug eine Panikattacke gehabt hätte. Ich wusste nicht, wie ich ihr hätte helfen können, deshalb sagte ich ihr, dass sie jemanden im Zug um Hilfe beten solle», schildert der 39-Jährige. «Von da an schrieb sie mir ständig. Oft auch sehr wirre, zusammenhangslose Dinge, die ich eigentlich gar nicht richtig verstanden habe. In der Nacht versuchte sie oft, mich anzurufen», so Stocker.
Stocker bat Samira mehrfach, ihn in Ruhe zu lassen. Sie zu blockieren nutzte nichts, sie belästigte ihn mit sechs Telefonnummern, auf den sozialen Medien und via E-Mail.
Er hatte zwar nie Angst vor Samira, doch es gab Situationen, die ihn erschreckten: «Ich habe mit einer Freundin ihren Geburtstag in Zürich gefeiert und plötzlich sendete mir Samira ein Bild von der Bar, in der ich mich befand. Ich weiss bis heute nicht, wie sie das damals herausgefunden hat.»
Das Stalking fand aber hauptsächlich online statt: «Sie schrieb mir täglich. An den schlimmsten Tagen jede Stunde oder jede halbe Stunde.» Stocker fügt an: «Sie begann auch, sich als Freundin und Nachbarin von sich selbst auszugeben, und belästigte mein Umfeld.»
«Ich war mir sehr lange auch nicht sicher, ob das, was sie machte, Stalking ist, oder ob ich mir das einbilde. Aber schlussendlich muss ich sagen: ‹Doch, es war Stalking› – und zwar mit der Folge, dass meine Privatsphäre enorm gelitten hat und eine Beziehung in die Brüche gegangen ist», sagt Stocker.
Während den Monaten, in denen er intensiv gestalkt wurde, lernte Stocker eine Frau kennen, mit der er eine Beziehung einging. Das fand Samira heraus, worauf sie die neue Partnerin ebenfalls belästigte.
Er sagt: «Meine damalige Partnerin beendete die Beziehung mit mir wegen Samira, sie hat es nicht mehr ausgehalten, dass sie sie konstant mit Nachrichten bombardiert hatte.»
Doch eine Frau blieb auch nach der Trennung in Stockers Leben: Samira. Nachdem sie ihn Monaten nicht in Ruhe gelassen hatte, willigte er zu einem Treffen ein – er erhoffte eine Klärung. «Das Gespräch mit ihr war angenehm und sachlich. Ich dachte, wir können abschliessen und sie lässt mich in Ruhe», sagt Stocker.
Doch es sollte anders kommen. Samira intensivierte den Kontakt nach dem Treffen und beschuldigte Stocker der sexuellen und körperlichen Gewalt. «Auf einmal schrieb sie mir, dass sie in der Brustregion Schmerzen habe. Dann habe ich ihr gesagt, dass sie einen Arzt aufsuchen solle. Erst später wurde mir bewusst, dass sie plante, diese vermeintlichen Schmerzen gegen mich zu verwenden», so Stocker.
Samira drohte, dass sie eine Anzeige wegen Vergewaltigung gegen ihn einreichen würde. «Sie meinte, dass, selbst wenn herauskommen würde, dass sie lügt, in den Köpfen der Leute immer diese Restunsicherheit mir gegenüber bleiben würde», erklärt Stocker.
Nach dieser Ankündigung entschied sich Stocker, Samira anzuzeigen wegen rufschädigendem Verhalten und Belästigung – wohl wissend, dass Stalking in der Schweiz kein Straftatbestand ist.
«Als ich auf der Polizeiwache ankam, war ich zum ersten Mal mit der Aussage: ‹Können Sie das nicht untereinander klären?› konfrontiert.» Stockers Anzeige wurde entgegengenommen.
Ein Beamter hat Samira kontaktiert und ihr gesagt, dass sie Stocker in Ruhe lassen solle. «Darauf hat sie mich sofort kontaktiert und sich mokiert. Sie hat mir gesagt, dass die Polizei nichts unternehmen könne», so Stocker.
«Auf einmal schrieb sie mir: ‹Du bekommst jetzt bald Post von mir – ich habe dich angezeigt wegen körperlicher und sexueller Gewalt.›», so Stocker.
Stocker wurde kurz darauf von der Polizei kontaktiert, dies fand er befremdlich: «Dass diese Anzeige viel schneller behandelt wurde als die, die ich erstattet hatte, hat mich irritiert. Ich hatte schliesslich schon im Vorhinein mit Screenshots bewiesen, dass Samira mir mit dieser Anzeige schaden möchte und nichts an der Geschichte dran ist.»
Doch es wurde schnell klar, dass die Anschuldigungen von Samira nicht der Wahrheit entsprachen: «Noch bevor ein gerichtlicher Entscheid getroffen wurde, hat man herausgefunden, dass Samira psychisch krank ist. Und: Kurz nachdem Samira Anzeige erstattet hatte, hat die Staatsanwaltschaft entschieden, ihre Anzeige nicht weiterzuverfolgen, weil Samira während der Einvernahme zugab, dass sie gelogen hatte», sagt Stocker.
Stocker war erleichtert. Aber da er selbst Anzeige erstattet hatte, wusste Stocker, dass noch einiges auf ihn zukommen würde. Bald zeigte sich, dass Stocker bei seinem Vorgehen gegen Samira finanziell nicht unterstützt wird. Stocker erklärt: «Das Gesuch auf eine unentgeltliche Rechtshilfe wurde abgelehnt, weil die Staatsanwaltschaft den Fall als zu gering ansah.»
Er ergänzt: «Ich kann verstehen, dass es Fälle gibt, die wichtiger sind als meiner, aber dennoch fühle ich mich nicht ernst genommen und alleine gelassen.»
Stocker ist der festen Überzeugung, dass die Opfer von Stalking heute nicht die Hilfe bekommen, die sie benötigen: «Stalking hat spezifische Muster und mit den gesetzlichen Mitteln, die uns heute zur Verfügung stehen, kann man nicht genug dagegen unternehmen. Heute muss man auf andere Tatbestände zurückgreifen, wenn man Anzeige erstatten will, was eine gewisse Willkür mit sich bringt. Und das darf in einem Rechtsstaat nicht passieren.»
Stocker zeigt sich besorgt: «Ich kenne andere Stalking-Fälle, bei denen am Schluss ein Auto gebrannt hat. Wir Opfer brauchen eine adäquate Unterstützung und müssen ernst genommen werden. Muss es zuerst Tote geben, bis die Politik etwas unternimmt?»
Die Anzeige von Stocker gegen Samira ist noch hängig. Ob seine Verteidigung bezahlt wird oder er selbst dafür aufkommen muss, weiss er noch nicht. Immerhin: Seit der Anzeige hat Stocker fast nichts mehr von Samira gehört. «Aber ich weiss nicht, wie lange diese Ruhe anhält – ich rechne ständig damit, dass der Terror wieder beginnt.»
Die Schweiz kennt keinen eigenen Straftatbestand für Stalking. Seit 2007 gibt es Bestrebungen, sei es im Parlament oder in der Bevölkerung, dies zu ändern – erfolglos. Gegnerinnen und Gegner einer Anpassung sind der Ansicht, dass die Gesetzesänderung missbraucht werden könnte und so Unschuldige zur Rechenschaft gezogen würden.
Dieses Jahr könnte jedoch eine Änderung angestossen werden: Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates beschloss, Stalking im Rahmen bestehender Tatbestände der Drohung und des Strafgesetzbuches explizit unter Strafe zu stellen. Ab September findet die Vernehmlassung der Gesetzesänderung statt, danach muss die Änderung von Parlament und Bundesrat akzeptiert werden.
Die Moderatorin Sara Taubman und der forensische Psychiater Frank Urbaniok haben nach einer gemeinsamen Podcastfolge über Stalking eine Online-Petition gestartet. «Auf die Folge haben wir extrem viel Feedback erhalten und wir haben gemerkt, dass in der Schweiz Handlungsbedarf besteht», sagt Taubman gegenüber watson. Die beiden und bisher über 2000 Menschen fordern, dass die Parlamentarier und Parlamentarierinnen umgehend einen eigenen Straftatbestand für Stalking in der Schweiz schaffen.
Sara Taubman sagt:
Doch lange nicht alle Stalking-Opfer würden mit den Behörden so gute Erfahrungen machen wie Taubman: «In der Schweiz geht es vielen Menschen so wie Peter Stocker, über 30 von ihnen haben uns ihre Geschichten geschildert. Sie werden gestalkt, wissen nicht weiter und fühlen sich von der Justiz alleine gelassen.»
Sie ergänzt: «Ein Straftatbestand, der klare Grenzen aufzeigt, ist längst überfällig.»
*Name von der Redaktion geändert.