«du bish hässlich»
«Ich mach der dis lebe so chabbut»
«Ich brich der din hals»
Irgendwann wurden Céline die Nachrichten, die Bilder, die Häme zu viel. Die damals 13-jährige Aargauerin nahm sich im Sommer 2017 das Leben, nachdem sie auf Social Media monatelang blossgestellt worden war.
Der Fall sorgte bis ins Ausland für Schlagzeilen, weil er plastisch aufgezeigt hat, welcher Tortur viele Kinder und Jugendliche heutzutage ausgesetzt sind. In einer Generation, die von Kindeswegen an online unterwegs ist, reicht auch das Mobbing, die Ausgrenzung und der Hass bis ins Netz. Und das Mobbing hört dort, im Gegensatz zur analogen Welt, auch nicht nach dem Läuten der letzten Schulglocke auf.
Der Fall Céline blieb in Bundesbern nicht unbemerkt. Mehrere Vorstösse wurden im Parlament eingereicht, darunter eine parlamentarische Initiative, die die Implementierung von «Cybermobbing» in das Strafgesetzbuch fordert. Doch würde eine Gesetzeserweiterung den Opfern tatsächlich helfen? Oder hätte sie eine reine Symbolwirkung? Bei diesen Fragen spalten sich die Meinungen.
Die konkreten Handlungen hinter Cybermobbing – zum Beispiel Ehrverletzung, Bedrohung oder Verleitung zum Selbstmord – sind bereits heute strafbar. Doch für SP-Nationalrätin Gabriela Suter reicht das nicht. Sie steckt hinter der parlamentarischen Initiative und argumentiert, dass klassische Grundtatbestände wie Nötigung der digitalen Realität nicht gerecht würden. Bei Cybermobbing sei es eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Handlungen, die in ihrer Gesamtheit auf das Opfer einwirken. Das Gesetz könnte jedoch nur Einzelhandlungen ahnden.
Das zeigte sich auch im Fall von Céline. Die zwei minderjährigen Haupttäter wurden zu ein paar Tagen gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Natürlich kam dabei das Jugendstrafrecht zum Tragen, das Minderjährige erziehen und nicht bestrafen will. Doch ob Céline durch gehäuftes, kontinuierliches Cybermobbing misshandelt wurde, hat das Gericht erst gar nicht bewerten können.
Fälle, wie jener von Céline, kommen immer häufiger vor. Gemäss der neusten Pisa-Studie fühlen sich in keinem anderen Land Europas mehr Schülerinnen und Schüler von Mobbing betroffen als in der Schweiz. Corona dürfte das Problem noch verschärft haben. Eine Studie der ZHAW kam zum Schluss, dass ein Viertel aller Jugendlichen schon einmal im Internet fertiggemacht wurden. Bei jungen Erwachsenen ist die Quote noch höher: Laut einer repräsentativen Online-Befragung in Deutschland, Österreich und der Schweiz vom November 2021 wurde bereits jede zweite Person im Alter von 18 bis 25 Jahren Opfer von Cybermobbing. Das sind 25 Prozent mehr als 2018.
Die Integration von Cybermobbing im Strafgesetzbuch soll diesem Trend entgegenwirken. Unterstützt wird die Initiative unter anderem von Célines Eltern, die sich seit dem Tod ihrer Tochter gegen Cybermobbing engagieren. Sogar Rechtsprofessor Nils Melzer, Uno-Sonderberichterstatter für Folter, steht hinter dem Vorstoss. «Ein Straftatbestand Cybermobbing schützt die Jugend besser», sagte er dem «Beobachter». Melzer setzt sich darüber hinaus bei der Uno dafür ein, dass Cybermobbing als eine Form von Misshandlung oder Folter anerkannt wird.
Auch die Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin begrüsst die Initiative. Zwar nur halbherzig, denn ihrer Meinung nach hätte man noch weiter gehen können. «Cybermobbing als Straftatbestand wäre ein unglaublich wichtiges Zeichen für Betroffene», sagt Spiess-Hegglin, «aber Cybermobbing ist eigentlich nur eine Unterkategorie der digitalen Gewalt.»
Spiess-Hegglin ist Mitbegründerin und Geschäftsführerin des Vereins «Netzcourage», welcher jährlich hunderten Opfern von digitaler Gewalt als Beratungsstelle dient und sie auch juristisch unterstützt. Doch der Gang vors Gericht sei oft vergebens, moniert Spiess-Hegglin. «Wir arbeiten mit einem analogen Gesetz aus dem letzten Jahrhundert. Das geht einfach nicht für Delikte, die im digitalen Raum stattfinden.»
In manchen Fällen kommt es allerdings tatsächlich zur einem Urteil. Die Netzaktivistin erzählt von einem Fall, der vor einem Jahr an einem Zürcher Bezirksgericht verhandelt wurde. «Netzcourage» ist es gelungen, ein digitales Stalking so gut zu dokumentieren, dass eine Massnahme verfügt wurde. Damit wurde ein Präzedenzfall geschaffen, denn bislang musste noch nie über ein solches rein digitales Delikt verhandelt werden. Verfügt wurde die Massnahme aufgrund des Gewaltschutzgesetz des Kantons Zürich, das 2007 eingeführt und im Juli 2020 ausgebaut wurde. Seither erlaubt es auch Schutzmassnahmen gegenüber Personen, die nicht in einer Partnerschaft leben oder gelebt haben. Zürich ist einer von nur drei Kantonen, in denen dies möglich ist.
Dem Stalker wurde ein Kontakt- und Rayonverbot auferlegt. «Doch dieses Verbot bezog sich auf die analoge Welt. Also hat es gar nichts gebracht, der Mann macht bis heute weiter. Das Urteil war ein Witz. Die Gesetze sind so alt und verstaubt, dass man sie nicht mehr richtig anwenden kann», sagt Spiess-Hegglin. Es bräuchte eine umfassende Gesetzesrevision mit Schnellgerichten und der Möglichkeit, Plattformbetreiber wie Facebook in die Verantwortung zu nehmen. «Die Implementierung von Cybermobbing ins Strafgesetz wäre ein erster Schritt und ein wichtiges Symbol, aber ich würde mir wünschen, dass man noch etwas grösser denkt».
Nicht alle teilen die Meinung von Spiess-Hegglin. Vor allem in juristischen Kreisen ist man skeptisch, was ein Cybermobbing-Strafbestand abseits von reiner Symbolik bringen würde. Die Solothurner Jugendanwältin Barbara Altermatt beschrieb dies gegenüber «SRF» einst so:
In Österreich ist man anderer Meinung. Dort wurde bereits 2016 ein eigenes Gesetz gegen Cybermobbing verabschiedet. Es setzt sich hauptsächlich aus bereits strafbaren Handlungen wie Nötigung und Verleumdung zusammen, stellt aber auch ausdrücklich die fortgesetzte Belästigung unter Strafe. Hätte es dieses Gesetz auch in der Schweiz gegeben, als der Fall Céline verhandelt wurde, dann wäre wahrscheinlich auch der Zusammenhang zu ihrem Suizid näher untersucht worden. Das österreichische Gesetz sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vor, falls es als Folge des Mobbings zu einem Suizid oder einem Suizidversuch kommt.
Das Gesetz dürfte bis anhin aber nicht den gewünschten Effekt erzielt haben. In den ersten Jahren nach Einführung kam es zwar zu rund 350 Anzeigen pro Jahr, aber nie zu mehr als sieben Verurteilungen.
«Als Anwalt sehe ich das Hauptproblem beim Cybermobbing nicht im Fehlen eines Straftatbestands», sagt der Zürcher Anwalt Martin Steiger, Experte für Recht im digitalen Raum. «Den betroffenen Personen fehlen häufig die Mittel, um den Rechtsweg zu beschreiten. Ausserdem können sich Strafverfahren über Jahre hinziehen.» In dieser Zeit würden viele Stalker munter weitermachen. Zivile Verfahren seien in diesem Fall besser, weil so zum Beispiel verhältnismässig schnell verfügt werden könne, Äusserungen zu unterlassen oder Inhalte zu löschen, so Steiger.
Er sei deswegen nicht prinzipiell gegen die Einführung von Cybermobbing als Straftatbestand, «aber mir fehlt die Hoffnung, dass sich damit substanziell etwas ändern würde.»
Steiger kommt seinerseits auch auf den digitalen Stalking-Fall zu sprechen, bei dem das Gewaltschutzgesetz zur Anwendung kam. «Eine Verschärfung dieses Gesetzes wäre voraussichtlich hilfreicher für Betroffene.» Denn auch wenn das geltende Gewaltschutzgesetz in einer analogen Welt erschaffen wurde, könne es bei digitalen Fällen genauso funktionieren.
Bislang gibt es aber kein Gewaltschutzgesetz auf nationaler Ebene. Ein entsprechender Vorstoss wurde 2009 abgelehnt. Die Verantwortung dafür wurde an die Kantone ausgelagert, seitdem gibt es einen Flickenteppich an unterschiedlichen Regelungen. «Die meisten Kantone fokussierten bei der Ausgestaltung auf die häusliche Gewalt, der digitale Raum ging oft vergessen», sagt Martin Steiger. Er würde deswegen eine angepasste, nationale Regelung begrüssen.
Die Initiative von SP-Nationalrätin Gabriela Suter stösst im Parlament auf ähnliche Zurückhaltung. Die Rechtskommission des Nationalrates hat der Initiative zugestimmt, jene des Ständerats verkündete jedoch letzte Woche, dass sie einen Bericht des Bundesrates mit konkreten Lösungsvorschlägen abwarten will, denn: «Nur den Begriff Cybermobbing im Strafgesetzbuch aufzuführen, löst die Nöte der Betroffenen nicht».
Zumindest in diesem Punkt stimmt die Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin zu. «Am meisten würde helfen, wenn wir als Gesellschaft mehr über dieses Thema sprechen.» Sie würde sich wünschen, dass mehr Betroffene von digitaler Gewalt ihre Erfahrungen öffentlich teilen.
So wie dies Célines Eltern auch tun. Seit dem Tod ihrer Tochter engagieren sich Nadya und Candid Pfister gegen Cybermobbing. «Wenn auch nur ein Kind weniger versucht, Suizid zu begehen, haben wir unendlich viel erreicht», erklärte Nadya Pfister letztes Jahr. Für ihr Engagement gegen Cybermobbing erhielten sie 2020 den «Prix Courage».
Kantönligeist in Reinkultur.
Föderalismus in Ehren, aber das Gesetz, die grundsätzliche Gesetzgebung, welche schweizweit nötig ist soll auch schweizweit gelten und greifen. es darf doch nicht sein, dass etwas in Zürich Verbotenes im ag, tg , dem Tessin oder der Romandie erlaubt ist.
offenbar sind wir auch in diesem Bereich wirklich im analogen Zeitalter stecken geblieben.