Mehr preisgünstige hindernisfreie Wohnungen, höherer IV-Assistenzbeitrag, Anerkennung der Gebärdensprache: Der Bundesrat lehnt neue Verfassungsbestimmungen für eine inklusivere Gesellschaft zwar ab, schlägt stattdessen aber ein Massnahmenpaket auf Gesetzesstufe vor. Das sind die wichtigsten Punkte.
Im September reichte die Trägerschaft der Inklusionsinitiative - im Lead war der Behinderten-Dachverband Inclusion Handicap – 108'000 gültige Unterschriften ein. Die Volksinitiative «Für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Inklusionsinitiative)» fordert die effektive Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen.
Konkret sollen Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Verhältnismässigkeit Anspruch auf die nötigen Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen erhalten. Insbesondere sollen sie das Recht haben, ihre Wohnform und ihren Wohnort frei zu wählen.
In der Schweiz leben rund 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Laut verschiedenen Verbänden von Betroffenen sind diese im Alltag zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt - sei es beim Wohnen, bei der Arbeit oder im öffentlichen Verkehr. Beispielsweise sind noch nicht alle Bahnhöfe in der Schweiz hindernisfrei.
«Die komplette Inklusion ist noch nicht Realität», sagte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider am Montag in Bern vor den Medien. Heute sind Menschen mit Behinderungen nur bei öffentlich angebotenen Dienstleistungen und in Arbeitsverhältnissen nach dem Bundespersonalgesetz vor Benachteiligungen geschützt. Ziel müsse es sein, dass Menschen mit Behinderungen ein möglichst unabhängiges Leben führen können, sagte Baume-Schneider.
Laut Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider lässt die Initiative einen zu grossen Interpretationsspielraum. «Dies könnte zu Rechtsunsicherheit und Missverständnissen führen.» Zudem brauche es keine Anpassung der Verfassung, weil diese die Rechte von Menschen mit Behinderungen schon genügend berücksichtige.
Ausserdem habe der Bund nur sehr beschränkte Kompetenzen, um Massnahmen zur Gleichstellung schweizweit vorzuschreiben. Die Hauptverantwortung liege bei den Kantonen.
Der Bundesrat schlägt ein mehrgleisiges Vorgehen vor. Erstens sollen in einem neuen nationalen Inklusionsrahmengesetz die Ziele und Prinzipien von Bund und Kantonen in der Behindertenpolitik verankert werden. Die bestehenden Massnahmen auf Kantonsebene, insbesondere im Bereich Wohnen, sollen harmonisiert werden.
Konkret sollen die Kantone ein vielfältiges Angebot an bedarfsgerechten Unterstützungsmöglichkeiten bereitstellen sowie den Zugang zu preisgünstigen und hindernisfreien Wohnungen fördern und betroffene Personen bei der Wahl ihrer Wohn- und Lebensform beraten.
Zweitens soll eine kleine IV-Revision Betroffenen den Zugang zu modernen Hilfsmitteln wie Hörgeräten und Prothesen erleichtern. Zudem soll der Assistenzbeitrag ausgebaut werden. Bezügerinnen und Bezügern einer Hilflosenentschädigung, die auf regelmässige Hilfe angewiesen sind, aber dennoch zu Hause leben möchten, können mit dem Assistenzbeitrag eine Person einstellen, welche die erforderliche Unterstützung leistet.
Das Rahmengesetz und die IV-Revision sollen den indirekten Gegenvorschlag zur Inklusionsinitiative bilden. Bis im Sommer 2025 soll eine Vernehmlassungsvorlage vorliegen.
Nein, das Parlament wird als Nächstes über eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes entscheiden. Auch diese greift Forderungen der Initiative auf und will den Geltungsbereich des bestehenden Gesetzes erweitern. Beispielsweise sollen die drei Gebärdensprachen rechtlich anerkannt werden. Zudem soll der Schutz vor Diskriminierung ausgebaut werden und neu alle öffentlich- und privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse umfassen.
Auch der Zugang zu Dienstleistungen, die von Privaten erbracht werden, soll barrierefrei werden. Arbeitgeber und Dienstleister sollen verpflichtet werden, «angemessene Vorkehrungen» zu treffen, um Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu verringern, beispielsweise durch die Einführung flexiblerer Arbeitszeiten oder einen besseren Zugang zu Online-Diensten. Rechtsansprüche sollen eingeklagt werden können, falls die Massnahmen zur Förderung der Inklusion nicht umgesetzt werden.
Mit der Vorlage werden laut dem Bundesrat auch einige Empfehlungen des Ausschusses des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Uno-BRK) umgesetzt.
Der Bundesrat plant eine grössere IV-Reform. Bundesrätin Baume-Schneider sprach von einer «Gesamtschau zu laufenden Geschäften», bei der auch die verschlechterten finanziellen Perspektiven der IV berücksichtigt werden sollen. Geprüft werden «Massnahmen, um das Wachstum der Neurenten einzudämmen, Massnahmen zur Optimierung der Leistungen, einnahmenseitige Massnahmen zur Stabilisierung des IV-Haushalts sowie Massnahmen zur Entschuldung der IV».
Bis im Herbst 2025 soll es konkreter werden. Daneben ist ein Aktionsplan für gehörlose Menschen geplant. Dieser soll bis Ende 2025 zusammen mit den Kantonen und den Betroffenenorganisationen erarbeitet werden.
Das Massnahmenpaket hat keine grossen finanziellen Auswirkungen. Laut dem Bund sollen insbesondere die schon heute vorhandenen Mittel für die Förderung der Inklusion ausgeschöpft werden. Für die bei der IV-Revision geplante Förderung von Hilfsmitteln sollen vier bis elf Millionen Franken zur Verfügung stehen. Die Mehrkosten für Arbeitgebende und Dienstleistende müssen laut dem Bundesrat verhältnismässig sein.
Mit dem Vorgehen des Bundesrats können die Rechte von Menschen mit Behinderungen und deren Umfeld rascher und konkreter verbessert werden als mit der Inklusionsinitiative, wie Bundesrätin Baume-Schneider sagte. «Mit dem Gesamtpaket verstärkt der Bundesrat sein Engagement für eine inklusive Gesellschaft, an der alle Menschen teilnehmen und teilhaben können.»
Der Bundesrat verfolge einen «realistischen und pragmatischen Ansatz» und priorisiere die verschiedenen Anliegen. «Wir beginnen mit der Wohnsituation und werden das Gesetz dann weiter ausbauen.»
Der Dachverband Inclusion Handicap begrüsst das Vorgehen des Bundesrats grundsätzlich. Dieser habe beim Behindertengleichstellungsgesetz nachgebessert und gehe mit einem Inklusionsgesetz in die richtige Richtung. Trotzdem brauche es die Inklusionsinitiative, «um endlich den entscheidenden Schritt in Richtung tatsächliche Gleichstellung zu tun». Insbesondere im öffentlichen Verkehr bleibe die Situation «unhaltbar».
Der Schweizerische Gehörlosenbund (SGB) kritisiert das Vorgehen des Bundesrats scharf. Er fordert ein Spezialgesetz zu den Gebärdensprachen - statt deren Integration in das Behindertengleichstellungsgesetz. «Sprachen sind keine Behinderung!», titelte die Organisation in einer Mitteilung. Der Bundesrat stosse Gehörlose vor den Kopf und missachte den Willen des Parlaments.
Die Anerkennung der Gebärdensprachen bleibe unverbindlich, konkrete Sprachfördermassnahmen fehlten, und notwendige Gleichstellungsmassnahmen würden komplett ignoriert.
(dab/sda)