Es ist die Trophäe aus den Verhandlungen mit der EU: Die Schweiz erhält das Recht, bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen infolge der Personenfreizügigkeit Massnahmen gegen die Zuwanderung zu ergreifen. Eine solche Klausel steht zwar schon im Abkommen über die Personenfreizügigkeit, sie wurde aber nie aktiviert, weil die EU ein Vetorecht hatte. In Zukunft könne die Schweiz nun aber die Schutzklausel «eigenständig aktivieren», wie Justizminister Beat Jans am Freitag erklärte.
Die Erwartungen sind hoch – insbesondere bei FDP und Mitte. Das zeigte sich in der «Arena» des Schweizer Fernsehens am Freitag. So sagte FDP-Präsident Thierry Burkart, die Schutzklausel sei der «absolut zentrale Punkt»: Viele Menschen im Land seien einverstanden mit dem bilateralen Weg, hätten aber ein Problem mit der Personenfreizügigkeit.
Ins gleiche Horn stiess Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Die Frage der Zuwanderung sei «entscheidend für die Akzeptanz der Abkommen in der Schweiz». Wobei Pfister auch auf die SVP-Initiative gegen eine 10-Millionen-Schweiz zu reden kam, die wohl vor den neuen bilateralen Verträgen vors Volk kommen dürfte. Hier werde es um die Frage gehen: «Wie können wir die Zuwanderung eigenständig in der Schweiz kontrollieren und gleichzeitig die Bilateralen erhalten?», so Pfister.
Doch es stellen sich Fragen: Wie gross müssen die Probleme sein, damit sie aktiviert wird? Ja, von welchen Problemen im Zusammenhang mit der Zuwanderung sprechen wir überhaupt? Kurz: Wie genau soll die Schutzklausel dereinst funktionieren?
Die Antworten auf all diese Fragen muss das Justizdepartement von Beat Jans nun sehr rasch liefern. Der SP-Bundesrat soll bis Februar ein Konzept vorlegen, wie die Schutzklausel im Ausländergesetz (AuG) ausgestaltet werden kann. Veröffentlicht wird der Vorschlag freilich erst im Frühsommer, wenn das Gesamtpaket in die Vernehmlassung geht.
Doch es gibt erste Hinweise, in welche Richtung im Departement des SP-Bundesrats gearbeitet wird. So nannte die Staatssekretärin für Migration, Christine Schraner Burgener, an der Medienkonferenz des Bundesrats am Freitag einige Beispiele, welche Kriterien beigezogen werden könnten, um schwerwiegende Probleme der Personenfreizügigkeit festzustellen.
Als mögliche Indikatoren nannte sie einen «akuten Mietzinsanstieg in bestimmten Regionen», eine hohe Zuwanderung, der Anstieg der Arbeitslosigkeit oder mehr Konkurse in bestimmten Branchen. Dazu müssten im Gesetz die Schwellenwerte bestimmt werden, bei deren Überschreitung die Schutzklausel aktiviert würde. Und als Beispiel einer Schutzmassnahme nannte Schraner Burgener «eine Einschränkung der Neuzuwanderung von EU-Efta-Bürgern in die von Arbeitslosigkeit betroffenen Branchen während zum Beispiel dreier Jahre».
Bemerkenswert: Die Schweiz kann diese inhaltlichen Faktoren der Schutzklausel ohne Rücksprache mit der EU im Ausländergesetz verankern. Auf Anfrage sagte Jans' Kommunikationschef Oliver Washington am Sonntag:
Denkbar sei eine Beschränkung der Zuwanderung, ebenso Massnahmen in einzelnen Regionen oder Branchen.
Für die Wirtschaft würde es auf jeden Fall aufwendiger, Arbeitnehmende im Ausland zu rekrutieren. Im innenpolitischen Prozess wird es daher spannend sein zu sehen, wer sich für eine Zuwanderungsbremse mit Biss einsetzt und wer auf eine möglichst zahnlose Schutzklausel drängt.
Dabei wird auch das mit Brüssel vereinbarte Vorgehen zu berücksichtigen sein: Aktiviert die Schweiz die Zuwanderungsbremse, muss sie das zuerst im gemischten Ausschuss mit der EU diskutieren. Gibt es da keine Einigung, kommt der Fall vor ein Schiedsgericht, in dem beide Seiten vertreten sind.
Der Bundesrat ist laut Kommunikationschef Washington der Ansicht, «dass das Schiedsgericht bei der Schutzklausel den Europäischen Gerichtshof EuGH nicht konsultieren muss». Was aber die Schweiz akzeptieren muss: Selbst wenn dieses Schiedsgericht die Schutzmassnahmen gutheisst, erhält die EU das Recht, die gleichen Massnahmen gegen die Schweiz zu ergreifen. Wie du mir, so ich dir.
Verliert aber die Schweiz vor dem Schiedsgericht, kann sie in eine weitere Runde gehen. Es ist ihr freigestellt, die Schutzmassnahmen beizubehalten. Dann aber kommt das Streitbeilegungsverfahren zum Tragen, wie es nun auf institutioneller Ebene ausgehandelt wurde. Auch hier kommt ein Schiedsgericht ins Spiel. Dieses muss aber unter Umständen die Einschätzung der EU-Richter einholen. Und für den Fall, dass die Schweiz diesen Prozess verliert, erhält die EU das Recht, nach eigenem Gutdünken Ausgleichsmassnahmen im Rahmen der Binnenmarktabkommen zu ergreifen – also dort, wo es der Schweiz besonders wehtut. (aargauerzeitung.ch)