Wer Rentner quält, wird nicht gewählt. Diese Politik-Regel ist hierzulande mit der AHV-Reform aktueller denn je. Höheres Pensionsalter, tiefere Rente: Wer solches fordert, ist politisch tot. Dabei sind es nicht die Alten, die im demokratischen Prozess den Anschluss zu verlieren drohen, sondern die Jungen. Nun wird die Diskrepanz noch grösser: Mit den Babyboomern geht eine Generation in Rente, die sämtliche Alters-Rekorde brechen wird – und das ganze Land muss zittern, ob das gut geht.
Die Zahlen sind erdrückend: Bei der Gründung der AHV 1948 kamen auf 100 Aktive 15 Rentner, heute sind es 29. Mit den Babyboomern steigt die Quote massiv an. 2045 werden es gemäss Bund 48 Rentner pro 100 Aktive sein. Es wächst eine Gesellschaft der Alten und sehr Alten, die ihre Macht auch einsetzen wird, um ihre Interessen zu wahren. Michael Hampe, Professor der ETH Zürich, ist sich deshalb sicher: «Unter der Politik der Babyboomer werden künftige Generationen leiden», sagt er auf Anfrage.
Die meisten, die in den 1950er- und 1960er-Jahren geboren wurden, seien sehr privilegiert aufgewachsen, sagt der Philosoph, der 56-jährig selbst der Babyboomer-Generation angehört. Besonders im Vergleich zur vorherigen Generation, die den Krieg miterlebt hat. Diese relative Sorglosigkeit führe häufig zu einer oberflächlichen, kurzsichtigen Einstellung – und zur Verantwortungslosigkeit, sagte er jüngst im Interview mit der «Süddeutschen Zeitung».
Die Situation gilt auch für die Schweiz. «Die Generation der Babyboomer ist jetzt fast überall an der Macht.» Es dauert nicht mehr lange, bis die Jungen rechnerisch die politische Mehrheit ebenfalls hierzulande verlieren. Es droht eine Diktatur der Alten. Der ETH-Professor bringt deshalb eine neue Form des Stimmrechts ins Spiel: die chronologische Gerechtigkeit. Dabei wird den Jungen ein grösseres Stimmgewicht eingeräumt. Wer länger mit den Folgen einer Entscheidung leben muss, soll stärkeren Einfluss nehmen können. Das würde auch die politische Kultur beleben.
«Ein Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung über 40 Jahre alt ist, ist kulturell, technologisch und künstlerisch nun mal weniger dynamisch.» Es gehe nicht darum, einen Generationen-Konflikt heraufzubeschwören, sagt Hampe, «aber die Babyboomer müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden».
Die Schweiz kennt Ideen, wie sie Hampe äussert. Politiker ernten damit aber keine Mehrheiten, sondern bloss Empörung. Vor einem Jahr wurde die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr (SP) konkret: «Mein Vorschlag ist, dass 18- bis 40-Jährige zwei Stimmen, 40- bis 65-Jährige 1,5 Stimmen und über 65-Jährige eine Stimme erhalten», sagte sie. Der Aufschrei war so laut wie vorhersehbar. Nach wenigen Stunden waren die Kommentarspalten voll: «Quatsch», «beschämend», «man sollte ihre Stelle einsparen».
Es sei richtig gewesen, eine Debatte anzuregen, sagt Fehr heute. Die Älteren müssten sich bemühen, die Anliegen der jungen Generation besser nachzuvollziehen. Ausserdem gebe es das gewichtete Stimmrecht bereits, wie das Ständemehr beweise. Es sei ein bewährtes Mittel, um eine strukturelle, hierarchische Überlegenheit abzufedern. Im Vordergrund stehe aber kein Modell, sondern die Sensibilisierung. Wenn Grosseltern vor jeder Abstimmung mit ihren Enkeln reden würden, würde das bereits helfen, sagt Fehr.
Mit einem angepassten Stimmrecht beschäftigen sich nicht nur Politiker und Professoren. Die Denkfabrik Avenir Suisse wälzte schon radikalere Ideen, um die demografische Zeitbombe zu entschärfen. Sie schlug ein Stimmrecht für alle Kinder ab Geburt vor. Bis zur Volljährigkeit könnten die Eltern stellvertretend für ihren Nachwuchs abstimmen. Das habe gleich zwei Vorteile. Erstens weil Eltern kleiner Kinder in der Regel eher jung sind und somit den Jungen zusätzliches Gewicht verleihen. Zweitens weil sie Anliegen der Zukunft stärker berücksichtigen würden. Bisher waren aber alle Vorstösse für ein Stimmrecht ab Geburt chancenlos.
Die Zeit für neue Ideen drängt, denn nicht nur die Babyboomer werden ihre Macht ausspielen, auch Politiker orientieren sich mehr und mehr an den Bedürfnissen der Alten. Sie glauben, nur so Wahlsiege einzufahren. «Das Rentenalter wird nicht angehoben», ist so ein Versprechen, das aus dieser Haltung resultiert. Für ETH-Professor Michael Hampe sind solche Aussagen aber «fatal». «Politiker sollten Kompromisse aushandeln und dabei auch an die Zukunft der Jungen denken.» Die Mehrheit habe nicht immer recht.
Vertreter aller Parteien würden heute stark um die älteren Generationen buhlen, sagt auch Regierungsrätin Fehr. Oft höre sie hinter den Kulissen, dass man sich eigentlich mehr für die Anliegen der Jungen einsetzen sollte. In der Öffentlichkeit hätten die gleichen Personen aber Beisshemmung. Das gelte vor allem in der Familienpolitik, bei Fragen wie der Mutterschaftsversicherung oder mehr Plätzen in Kinderkrippen. «Wenn das Thema die Älteren nur noch wenig betrifft, ist es schwierig, eine Mehrheit zu finden», sagt Fehr.
Doch was nützt ein stärkeres Stimmgewicht, wenn man das vorhandene nicht nützt? Viel zu oft bleibt ein Grossteil der Jungwähler den Abstimmungslokalen fern. Diese Entwicklung könnte sich gemäss Hampe noch verschärfen: «Wer das Gefühl hat, nicht gehört zu werden, partizipiert irgendwann nicht mehr am politischen Prozess.»
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt der 39 Jahre junge Bundesratskandidat Pierre Maudet (FDP/GE). Er glaubt, dass es den Jungen an Vorbildern fehlt. «Wir müssen mehr Junge dazu bringen.» Auch die Hochschulen nimmt er in die Pflicht. «An den Universitäten sollte es spezielle Ausbildungsgänge geben für Junge, die sich eine solche Karriere vorstellen könnten.» Zudem müssten Kinder bereits in der obligatorischen Schule mehr Lektionen zur politischen Bildung erhalten. Das würde die Jungen stärker für eine Karriere in der Politik begeistern, ist sich Maudet sicher.
Er selbst hat es vorgelebt. Im Alter von 15 Jahren gründete Maudet ein Jugendparlament in Genf, mit 21 wurde er Mitglied des Stadtparlaments und vor fünf Jahren übernahm er den Posten des Regierungsrats. Sollte er im September mit 39 gewählt werden, wäre er seit Ruth Metzler, die 1999 mit 34 in die Landesregierung einzog, der jüngste Bundesrat der Nachkriegszeit.
Wer jetzt sagt das 16-Jährige nicht bereit zum Abstimmen sind: Bis 1991 konnten 18- und 19-Jahrige auch nicht abstimmen, bis in die 70er Frauen nicht, behauptet heute ja auch niemand mehr dass diese Gruppen nicht abstimmen sollen. Bei den Jungen stimmen sowieso nur die ab die interessiert und daher informiert sind.