Wie gehen Karrieren in der Politik zu Ende? Im Ausnahmefall: mit einer fürchterlichen Niederlage oder einem grandiosen Sieg. Viel wahrscheinlicher ist aber ein Rücktritt in Raten, eine Nachfolgesuche für all die Ämter und Ämtlein, die sich im Lauf eines Lebens für die und in der Öffentlichkeit halt so ansammeln.
Es ist ein heikler, ein filigraner Moment in der Politlaufbahn. Denn er sagt etwas aus über den eigenen Erfolg – aber im Fall der Schaffhauser Nationalrätin Martina Munz auch über ihre Partei, die SP. Am Mittwochabend wird im Kulturzentrum Kammgarn in Schaffhausen ihrer Kantonalpartei Munz’ Rücktritt verkündet.
Eine Woche vorher sitzt die 68-Jährige in ihrem Garten in Hallau. Ihr Blick reicht über ein kleines Biotop, ein Gewächshaus, mehrere Obstbäume und drei Jahrzehnte politischen Engagements. «Viel Arbeit», sagt sie, «es war immer sehr viel Arbeit.»
Aufgewachsen ist Martina Munz in einer typischen Mittelstandsfamilie. Der Vater Bauingenieur, die Mutter Drogistin. Eigentlich. «Es war eine Zeit, in der sich die Männer noch schämten, wenn die Frau arbeiten wollte. Also blieb meine Mutter zu Hause, obwohl sie ihren Beruf liebte», erzählt Munz. Das habe immer wieder Anlass zu Diskussionen gegeben – für Munz eine prägende Erfahrung.
Auch sie widersetzte sich dem Familienoberhaupt. Munz’ Rebellion: ein Studium an der ETH in Agronomie. «Wir waren wenige Frauen in unserem Studiengang. Bei der Antrittsvorlesung wünschte der Professor den Männern alles Gute und den Frauen viel Glück auf dem Heiratsmarkt.» Noch heute muss Munz den Kopf schütteln, wenn sie daran zurückdenkt. Sie nahm sich vor, es den Männern zu zeigen.
Ihre politische Erweckung musste dennoch noch ein bisschen warten. Ihr Mann war ebenfalls in der Politik, sie arbeitete, gemeinsam schauten sie zu den vier Kindern, die in kurzen Abständen das Haus gefüllt hatten. Dass irgendwann aber sie zum Zug kommen sollte, war immer angedacht. Eines Abends kam er nach Hause und sagte: «Ich habe den Rücktritt vom Gemeinderat gegeben. Jetzt bist du dran», so erzählt es Munz. «Da habe ich zunächst mal gestaunt.»
1993 erlebte die Schweizer Sozialdemokratie ein Erdbeben. Bei der Bundesratswahl vom 3. März gingen viele von einem Sieg von Christiane Brunner aus – gewählt wurde aber Francis Matthey. Eine Protestwelle schwappte über das Land; allerorts stiegen die Frauenanteile in den Parlamenten, bekannt als Brunner-Effekt. «Im SVP-Nest Hallau gründeten wir eine SP, um die Gleichstellung voranzutreiben», sagt Munz. Wenig später politisierte sie im Kantonsrat.
Es war ein Kraftakt für die Familie. Der Ehemann wollte zwar beruflich reduzieren, was er aber als Chefangestellter beim Bund nicht durfte. Und Munz selber wollte ihre Stelle als Berufsschullehrerin nicht aufgeben – auch, weil sie einer politischen Karriere nicht ganz traute.
Martina Munz sitzt an einem Holztisch vor selbst gebackenen Brötchen, das grosse Haus mit den vielen Solarmodulen in ihrem Rücken. Die Kinder sind längst ausgezogen, der Mann 2019 gestorben, nach kurzer, schwerer Krankheit. Mit ihm verlor Munz einen Familienmenschen und wichtigste Stütze. Manchmal komme es ihr schon komisch vor, so ganz alleine hier.
«Ihre Energie bewundere ich bis heute. Ich weiss nicht, wie sie alles unter einen Hut gekriegt hat», sagt Barbara Wanner, langjährige Jasspartnerin von Munz im Rot-Schuh-Quartett. «Wenn wir unsere roten Schuhe anhatten, waren wir unschlagbar», erklärt sie den Namen. Als Jasserin sei Munz «eher auf der vorsichtigen Seite», meint Wanner. Für die Politik gilt das kaum.
Es ist die zweite Woche der Junisession. Das Parlament diskutiert über das Klima-Urteil, Magdalena Martullos Turmzimmer und die nahende Abstimmung über das Stromgesetz. Martina Munz steht in der Wandelhalle und diskutiert über die Folgen, sollte das Volk den Ausbau der Erneuerbaren beschliessen. Der Wasserkraft, speziell 15 an einem runden Tisch bestimmte Projekte, kommt darin eine Schlüsselrolle zu in der Energiewende.
Seit wenigen Tagen kennt Munz damals die Antwort der Berner Regierung auf die Beschwerde gegen den Ausbau der Anlage Trift, eines von 16 Wasserkraft-Projekten des Stromgesetzes. Sie weiss schnell: Aquaviva, der Verband, den sie seit drei Jahren präsidiert, wird die Einsprache weiterziehen – unabhängig dessen, was das Volk entscheidet. Munz sagt dort das gleiche, was sie auch beim Treffen in ihrem Garten sagt: «Die Wasserkraft in der Schweiz ist zu 95 Prozent gebaut.» Drei Tage später sagt die Schweiz mit überwältigender Mehrheit Ja zum Ausbau der Erneuerbaren.
«Auch ich will die Energiewende», sagt Munz. «Aber ich habe auch ein Herz für die Natur, für die Landschaft.» Mit ihrer Position erntete Munz Kritik auch aus der eigenen Partei. Fraktionskollege Roger Nordmann griff Munz in einem Interview im «Tages-Anzeiger» Mitte Juni frontal an: Es sei doch nicht so kompliziert, sich an einen intelligenten und abgesegneten Kompromiss zu halten, sagte er. Es ist, als wäre die unprätentiöse Munz plötzlich streitbarer geworden.
«Das ärgert mich, vor allem weil wir gut zusammengearbeitet hatten bezüglich Energiewende und Umweltschutz», sagt Munz. Auch, weil das Stromgesetz die geltenden Gesetze nicht einfach ausheble. «So stand es auch im Abstimmungsbüchlein!» Einsprachen sollten nach wie vor möglich sein, wenn die geltenden Umweltschutzvorgaben nicht eingehalten werden.
«Die Trift ist eine unberührte Landschaft, wie es sie in der Schweiz kaum mehr gibt, daher war eine Einsprache zwingend. Für die Dauer der Konzession müsste mindestens ein entsprechender Ersatz als Wildnisfläche garantiert werden.» Es ist eine kleine Wende: Bislang war der Protest des Umweltverbands im Berner Oberland fundamental, wenngleich der Vorstand in der Frage nicht ganz geeint ist.
Munz’ ökologisches Gewissen drückt auch in anderen Fragen durch, etwa in der Landwirtschaftspolitik. Dieses Dossier hat Munz von Beat Jans übernommen, als dieser in die Basler Regierung und später in den Bundesrat wechselte. In der Partei Meyer'scher/Wermuth'scher Prägung geniesst dieses aber keinen besonders hohen Stellenwert.
Aus der Fraktion ist zu hören, dass Munz die vergangene Sommersession nutzen wollte, um ihren Abgang vorzubereiten, und ihre verschiedenen Ämter an Fraktionskolleginnen und -kollegen weiterreichen wollte. Das Interesse habe sich aber in Grenzen gehalten.
Greina-Stiftung, Stiftung Landschaftsschutz und Aquaviva: All diesen Verbänden haftet das Stigma der Verhinderer an. «Vorderhand bleibe ich Präsidentin von Aquaviva, das macht mir Freude», sagt Munz.
Wäre Munz nicht besser bei den Grünen zu Hause? «Gar nicht», sagt sie sofort. Auch wenn der SP aktuell das naturwissenschaftliche Profil etwas fehle, sei sie doch jene Partei, welche für Munz einen ganzheitlichen Ansatz biete: «Die SP richtet sich am Wohl der Schwachen aus. Die Natur ist da für mich mitgedacht.»
Nach elf Jahren im Nationalrat denkt sie vielmehr daran, wie andere ins erste Glied treten können. Die Wahl von Simon Stocker in den Ständerat vergangenen Herbst war ein Coup, bei dem nicht zuletzt Munz im Hintergrund mitwirkte. Dafür ist man ihr in der Partei dankbar, auch wenn die SP oft lieber jüngere Gesichter ins Rampenlicht stellt.
Für Munz ist das kaum ein Problem. «Wir haben im Moment so viele junge Frauen, die den Karren ziehen. Das erfüllt mich mit Freude.» Auch für sie wird eine solche nachrücken: Linda De Ventura ist 38 Jahre alt. Ein Zufall ist das nicht: Diese Übergabe hat Munz von langer Hand geplant.
Ich war beeindruckt mit welcher Deutlichkeit und Prägnanz sie die Vorteile der AHV formulieren konnte während der Bürgerliche bloss nichtssagende Phrasen dreschte.
Eine kluge, pragmatische und trotzdem sehr engagierte Politikerin wie es nicht allzu viele gibt.