Herr Kiesewetter, diese Woche war Friedrich Merz zu Gast bei Donald Trump. Dass der Kanzler das Treffen unbeschadet überstanden hat, sorgte in der deutschen Öffentlichkeit fast schon für Euphorie. Wurde Merz zu Recht gelobt?
Roderich Kiesewetter: Merz hat sich die Besuche anderer Regierungschefs bei Trump wohl sehr genau angeschaut und die Situation richtig eingeschätzt. Vor allem hat er klar darauf hingewiesen, wer im Krieg zwischen Russland und der Ukraine Täter ist und wer Opfer. Dass er im Vorfeld keine allzu grossen Erwartungen geweckt hat, hat ihm sicherlich auch geholfen.
In der Ukraine-Politik hat Merz vor einigen Wochen einen merkwürdigen Vorstoss gemacht: Erst erklärte er, die Ukraine solle weitreichende Waffen einsetzen dürfen, dann hiess es, das sei gar nichts Neues. Ohnehin liefert Deutschland keine Systeme, die Ziele tief in Russland erreichen können.
Merz und Aussenminister Johann Wadephul haben gesagt, sie setzten in der Ukraine-Politik auf Kontinuität. Die Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine setzt sich also fort, und das, was Merz zur Reichweitenbegrenzung gesagt hat, ist in der Tat der Sachstand vom letzten Jahr. Den Marschflugkörper Taurus, die einzige weitreichende Waffe, die wir den Ukrainern liefern könnten, liefern wir leider noch immer nicht.
Dann können Sie mit Ihrem Parteikollegen im Kanzleramt kaum zufrieden sein.
Wir Abgeordneten sind keine Regierungssprecher. Natürlich bleibt Merz hinter seinen Wahlkampfversprechen zurück und das kann man auch thematisieren. Sein derzeitiger Kurs dient wohl auch der Beruhigung des Koalitionspartners SPD.
Merz hat entschieden, dass Sie nicht mehr dem Parlamentarischen Kontrollgremium angehören sollen, das sich mit der Arbeit der Geheimdienste befasst. Wollte er Sie für Ihre kritische Haltung bestrafen?
Dazu habe ich alles gesagt. Ich habe drei Axiome: die Unterstützung der angegriffenen Ukraine, das Existenzrecht Israels und, dass ich am 29. Januar, als der damalige Oppositionsführer Merz seine Vorstösse zur Migrationspolitik mit den Stimmen der AfD durch den Bundestag gebracht hat, dem nicht zugestimmt habe. Das hat Merz wohl zu dieser Entscheidung veranlasst, aber ich bleibe bei meiner Haltung.
Das heisst, Sie sind mit Ihrer Haltung in Ihrer eigenen Partei eher einsam?
Viele schweigen. Die klarste Haltung in der Ukraine-Politik nehmen die Grünen ein.
Zumindest, was die Aufrüstung der Bundeswehr angeht, scheint Deutschland aus Ihrer Sicht aber mittlerweile den richtigen Weg einzuschlagen.
Wenn es denn eine Aufrüstung wäre! Zunächst einmal muss die Ausrüstung deutlich verbessert werden. Es fehlt an Personal; Verteidigungsminister Boris Pistorius hat klargestellt, dass er sehr bald 50’000 bis 60’000 Soldaten zusätzliche Soldaten braucht. Dafür müssten die Streitkräfte aber erst einmal vernünftige Arbeitsbedingungen bieten: Fahrzeuge, die fahren, Flugzeuge, die fliegen, und Waffen, die ausreichend Munition haben. Glücklicherweise will Deutschland nun 3,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung aufwenden. Im Wahlkampf haben das nur die Grünen gefordert, jetzt hat sich die Regierung diese Position zu eigen gemacht. Hinzu kommen sollen 1,5 Prozent für die Infrastruktur der Bundeswehr.
Was das deutsche Verteidigungsbudget angeht, scheint Trump zu wirken: Seine Drohungen haben offensichtlich ein Umdenken in Berlin bewirkt.
Wobei es besser gewesen wäre, früher und aus eigener Einsicht zu handeln. Vielleicht wäre die Wahl Trumps dadurch sogar zu verhindern gewesen. Die Demokraten hätten ihren Landsleuten sagen können, schaut her, die Deutschen tun etwas.
Könnte sich das transatlantische Verhältnis nach Trump wieder verbessern oder wirkt er, was die Abwendung Amerikas von Europa angeht, als Katalysator?
So, wie es einmal war, wird es wohl nicht mehr werden, zumal wir in den USA einen demografischen Wandel erleben. Diejenigen, die sich nach Europa orientieren, werden älter und weniger; neue Einwanderer kommen vor allem aus Asien und Lateinamerika. Die Europäer müssen ihre Sicherheit selbst in die Hand nehmen – und den Amerikanern vermitteln, dass dadurch Ressourcen freiwerden, die sie zur Sicherung der Seewege im Indopazifik einsetzen können.
Die Deutschen könnten nun in eine Situation kommen, in der sie für ihre Freiheit kämpfen müssen. Doch die Vorbehalte gegenüber allem Militärischen sind in der Bundesrepublik wohl grösser als überall sonst in Europa. Lässt sich eine solche Mentalität rasch ändern?
Ein Glück für Europa, dass wir diese Mentalität in den mittelosteuropäischen Ländern und den nordischen Ländern nicht sehen. Die Bedrohungslage wird dort sehr viel realistischer eingeschätzt und die Bereitschaft zu Engagement ist grösser. Deutschland ist ein typisches Beispiel für eine postheroische Gesellschaft, in der wenige bereit sind, in Sicherheitsberufen zu dienen und individuelle Gefährdungen in Kauf zu nehmen. Vielleicht wird sich dies nur ändern, wenn wir so etwas wie unseren eigenen 11. September erleben – was ich natürlich nicht hoffe. Russland hat letztes Jahr einen Container in Leipzig in Brand gesetzt. Wäre es zum Absturz eines Flugzeugs in einer Grossstadt gekommen, hätte das verheerende Folgen gehabt. Ich fürchte, wir laufen auf so ein Ereignis zu, und das wird die öffentliche Meinung ändern.
Der deutsche Autor Ole Nymoen sagt, er würde lieber in Unfreiheit leben, als tot zu sein. Er mag sich dabei sagen: Wenn man tot ist, ist alles vorbei, in Unfreiheit kann man immer noch auf eine Besserung der Verhältnisse hoffen.
Herr Nymoen sollte sich in die Lage ukrainischer Staatsbürger in den russisch besetzten Gebieten versetzen: Die Menschen dort müssen ihre Pässe abgeben, wenn sie ihre Wohnung behalten wollen, ihre Kinder werden zu paramilitärischer Ausbildung gezwungen, ihre Töchter werden vergewaltigt. Ich wünsche Leuten wie ihm, dass sie begreifen, welches Leid für andere sie durch ihre Haltung in Kauf nehmen. In den 1980er-Jahren hiess es: «Lieber tot als rot.» Aber es gibt immer eine Alternative, und die heisst: Frieden und Freiheit in Selbstbestimmung. Herr Nymoen hat mich im Internet als Kriegshetzer verunglimpft; als ich ihn in einer Fernsehsendung damit konfrontiert habe, wollte er sich nicht mehr daran erinnern. Ich kann ihn nicht ernst nehmen.
Ist es ein Problem, dass Politiker, die selbst den Wehrdienst verweigert haben, nun den Jungen erzählen, sie müssten vielleicht bald kämpfen?
Nein. Es hat in Deutschland immer ausreichend Grundwehrdienstleistende gegeben. Jedes Jahr haben 300’000 junge Männer gedient und von den übrigen 300’000 hat ein Grossteil Zivildienst geleistet. Die Schweiz war da sehr viel strenger; Sie wissen ja, wie dort lange Zeit mit Verweigerern umgegangen wurde. Deutschland handelte toleranter, und diese Toleranz beschädigt heute unsere Wehrfähigkeit.
Wie könnte der Krieg in der Ukraine ausgehen? Wird Kiew auf Gebiete verzichten müssen, damit es zu einem Friedensschluss kommen kann?
Wenn die Ukraine auf Territorium verzichtet, wird Russland weitermachen. Die Ukrainer kämpfen auch für Europa: Putin fordert ja einen Abzug der Amerikaner und ihrer Atomwaffen aus Europa sowie den Austritt aller früheren Staaten des Warschauer Pakts und aller früheren Sowjetrepubliken aus Nato und EU.
Aber ist eine Rückeroberung des Donbass oder gar der Krim realistisch?
Es ist dann realistisch, wenn wir die Ukraine mit allem, was möglich ist, unterstützen. Russland will aus der Ukraine einen Marionettenstaat wie Belarus machen. Wenn wir das zulassen, wird Russland keinen Frieden machen. Unser Ziel muss es sein, die Grenzen von 1991 wiederherzustellen.
Rechnen Sie damit, dass Russland in absehbarer Zeit Polen oder das Baltikum angreifen könnte? Der Krieg verläuft für die Russen doch schon jetzt sehr viel verlustreicher, als Putin sich dies wahrscheinlich vorgestellt hat.
Putins Zustimmungswerte sind durch den Krieg gestiegen. Nun wächst die Unzufriedenheit, denn die Russen können sich vieles nicht mehr leisten. Putin muss dies über Erfolge auf anderen Gebieten kompensieren. Der Politologe Carlo Masala hat verschiedene Szenarien aufgezeigt. So könnte der Rat der estnischen Grenzstadt Narwa, wo vor allem ethnische Russen leben, den Anschluss fordern. Putin könnte dort grüne Männchen hinschicken und zeigen, dass der Artikel 5 der Nato, also die Beistandspflicht im Angriffsfall, nicht funktioniert. In Deutschland würden dann wohl Massen auf die Strasse gehen, aber ich fürchte, die Solidarität würde sich in Worten erschöpfen.
Muss Putins Regime fallen, damit es Frieden geben kann?
Russland muss zumindest politisch verlieren lernen: durch eine militärische oder politische Niederlage, sodass es alle Truppen zurückziehen muss. Moskau müsste dann das Existenzrecht der Ukraine anerkennen. Dass Deutschland das Existenzrecht seiner Nachbarn anerkennt, haben wir den Amerikanern zu verdanken, nicht den Briten und Franzosen, die vor dem Zweiten Weltkrieg beschwichtigend auf Polen und die Tschechoslowakei eingewirkt haben. Dadurch hatte Hitler mehr Zeit, den Krieg vorzubereiten. Zeit ist auch heute ein entscheidender Faktor: Die Russen wissen, dass die Nato fünf bis acht Jahren braucht, um ihre Fähigkeitsziele umzusetzen. Das heisst, dass die nächsten zwei Jahre die eigentlich gefährliche Zeit sind.
Sie meinen, die Schweiz gebe zu wenig für ihr Militär aus. Heisst das, dass Sie eine aktivere Mitwirkung Berns erwarten, wenn es darum geht, die Sicherheit Europas zu gewährleisten?
Neutralität heisst nicht, keine Haltung zu haben. Sie bedeutet, keinem Bündnis anzugehören und trotzdem wehrfähig zu sein. Schweden und Finnland waren äusserst wehrfähig. Nun haben sie entschieden, ihre Neutralität aufzugeben, weil sie erkannt haben, dass sie ihre Sicherheit dann am besten organisieren können, wenn sie ihre Kräfte mit denen der anderen vereinen.
Das dürfte im Fall der Schweiz kaum bevorstehen.
Es lebt sich halt gut zwischen Norditalien und dem Bodensee. Für einen Verteidiger ist eine solche Lage ideal. Wir Deutschen sollten uns mit Kritik zurückhalten, denn im Verhältnis zur Grösse des Landes haben wir nicht so viel mehr für die Ukraine getan. Aber dass die Schweiz die Lieferung von Rüstungsgütern an die Ukraine blockiert, ist schon irritierend. Ich glaube, es wird auch Ergebnisse des investigativen Journalismus geben, die zeigen, wie eng die Verflechtung der Schweiz mit der organisierten Kriminalität und dem russischen und sonstigen Oligarchentum ist. Die Schweiz wird da sicherlich einiges aufzuarbeiten haben. Durch ihre Diskretion ist sie ein Tummelplatz für Personen, mit denen ihre Nachbarstaaten weniger zu tun haben wollen.
Damit unterscheidet er sich ganz deutlich von diesen Putin-Fanboys der SPD. Was Mützenich, Stegner, Walter-Borjans Eichel, etc. mit ihrem "Manifest" beabsichtigen, liegt auf der Hand.
Es gibt nicht nur im EU-Parlament Abgeordnete, die ihre Tantiemen aus Moskau beziehen. Auch im dt. Bundestag gibt es Abgeordnete, die diesbezüglich nicht unverdächtig sind. Dass es in der AfD, BSW und der Linke solche Typen gibt, ist unbestritten. Aber auch in der SPD gibt es solche – und dies (leider) viel zu viele. 🧐