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Geheimdokument: So wollte Cassis die Schweizer Neutralität verändern

Geheimdokument enthüllt: So wollte Cassis die Schweizer Neutralität verändern

In einem vertraulichen Papier legte Ignazio Cassis dem Bundesrat dar, wie die Schweiz ihre Neutralität neu auslegen könnte. Nun liegt das Dokument CH Media vor. Es zeigt schonungslos, wie das Verständnis für die Neutralität im Westen schwindet.
02.04.2023, 06:1202.04.2023, 08:09
Stefan Bühler / ch media
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Die sieben bedeutendsten, westlichen Staaten, die G7, wollen sich die Schweiz vorknöpfen. Das berichtete diese Zeitung am Samstag. Konkret haben die USA, Kanada, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Japan und Italien Fragen zur angeblich zögerlichen Sanktionspolitik des Bundes, zur Blockade von Rüstungsgütern aus Schweizer Produktion und zum Umgang mit den Milliarden russischer Oligarchen auf Schweizer Banken. Es ist eine ungemütliche Entwicklung für die Schweiz.

Ignazio Cassis, President of the Swiss Confederation and Federal Councillor addresses the opening plenary session, during the 51st annual meeting of the World Economic Forum, WEF, in Davos, Switzerlan ...
Ignazio Cassis spricht erstmals auf grosser Bühne von der kooperativen Neutralität: der damalige Bundespräsident bei seiner Eröffnungsrede am WEF.Bild: keystone

Doch überraschend kommt sie nicht. Das zeigt ein Blick in jenen geheimen Bericht, den Aussenminister Ignazio Cassis im September dem Bundesrat vorgelegt hat – und mit dem er die Neutralitätspolitik unter dem Schlagwort «kooperative Neutralität» neu ausrichten wollte. Das Papier vom 31. August 2022 liegt dieser Zeitung vor. Es ist schonungslos direkt.

So heisst es gleich im ersten Abschnitt: «Partnerstaaten bekunden Mühe, Sinn und Zweck einer neutralen Position zu verstehen, (...) wenn es sich wie bei der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine um einen direkten Angriff auf das freiheitliche Wertesystem und die internationale Ordnung handelt.» Und im letzten Abschnitt:

«Die Neutralität darf nicht als eigenbrötlerisch wahrgenommen werden.»

Der Rückzug des Bundesrats ins Jahr 1993

Schon in den Wochen vor der Bundesratssitzung hatte Cassis öffentlich für seine Idee geworben. Über Leaks gelangte ein Entwurf des Berichts zudem in die Medien. Das dürfte im Regierungskollegium Abwehrreflexe geweckt haben: Der Bundesrat lehnte Cassis' Konzept ab.

Die bestehende Definition der Neutralitätspolitik von 1993 bleibe gültig, teilte er am 7. September mit. Eine Position, auf die er sich seither versteift hat: In Antworten auf Vorstösse und mitunter auch ungefragt wiederholte der Bundesrat, er gedenke nicht vom Status quo abzuweichen, dieser lasse dem Bund neutralitätspolitisch «genügend grossen Handlungsspielraum».

So steht es auch in einer abgeänderten und gekürzten Version des Berichts, den der Bundesrat im Oktober publizierte. Cassis' Papier hingegen verschwand in den Schubladen.

Doch der gouvernementale Rückzug ins Jahr 1993 hat die Debatte nicht beendet. Im Gegenteil, wie ein ungewöhnlich scharfes Interview des US-Botschafters in Bern jüngst in der NZZ sowie nun die Aktivitäten der G7 zeigen. Auch im Parlament drehen sich die Diskussionen im Kreis. So hat die Sicherheitskommission des Nationalrats zwar soeben der Lieferung ausrangierter Leopard-Panzer an Deutschland zugestimmt – dass die Schwesterkommission des Ständerats ihr folgen wird, ist aber fraglich.

Es lohnt sich daher ein vertiefter Blick in Cassis' Bericht, den der Bundesrat im September zurückwies. Schon damals schrieb das Aussendepartement unter dem Stichwort «Aussenwahrnehmung» von kritischen Stimmen aus der EU, den USA und dem Vereinigten Königreich:

«Es ist oft zu hören, dass es sich die Schweiz inmitten Europas bequem gemacht hat und ihre eigene Sicherheit der Nato überträgt.»

Und weiter: «Neutralität wird bisweilen als Vorwand verstanden, um passiv und gleichgültig gegenüber den internationalen Herausforderungen zu bleiben und (...) die wirtschaftlichen Interessen voranzubringen.»

Die Neutralität werde von der EU, den USA und Grossbritannien «weniger positiv wahrgenommen als in der Schweiz oft angenommen», lautet eine Feststellung. Ja:

«Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat in Europa das Verständnis gegenüber der Schweizer Neutralität abgenommen.»

Aus angelsächsischer Perspektive teile sich die Welt zunehmend in zwei Lager: freie, demokratische Länder versus autoritäre Regimes.

«In dieser Welt ist der Platz für die Neutralität enger geworden.»

Unabhängigkeit und Sicherheit «nur gemeinsam mit anderen»

Vor diesem Hintergrund erörtert der Bericht «Optionen zur Anpassung einer Neutralitätskonzeption». Im Zentrum steht dabei der Vergleich des Status quo mit der von Cassis angestrebten kooperativen Neutralität.

Grundsätzlich habe sich die Neutralitätskonzeption von 1993 bewährt, heisst es im Bericht: Die Schweiz habe in den letzten 30 Jahren «ihre Interessen und Werte schützen und durchsetzen» sowie einen «Beitrag zu einer sicheren und friedlichen Weltordnung leisten» können. Dieser Status quo sei jedoch unter der Annahme entwickelt worden, «dass die Zeit der politischen Blockbildung vorüber ist und die kollektive Sicherheit durch einen funktionsfähigen UNO-Sicherheitsrat (...) geschützt werden kann».

In this image made from UNTV video, Switzerland's Foreign Minister Ignazio Cassis speaks during a United Nations Security Council meeting, Friday, Feb. 24, 2023. (UNTV via AP)
Hat keinen einfachen Job: Aussenminister Ignazio Cassis.Bild: keystone

Doch nun zeigten geopolitische Verschiebungen, die Destabilisierung der europäischen Sicherheit sowie technologische Entwicklungen, «dass sich die Ausgangslage verändert hat und das aktuelle Neutralitätsverständnis anpassungsbedürftig ist». Beim Status quo sei die Kooperation mit den Wertepartnern «nur beschränkt möglich».

Der Beitrag der Schweiz zur Sicherheit in Europa und damit zu ihrer eigenen Sicherheit sei aber ausbaufähig, «auch im Rahmen des Neutralitätsrechts» – mit der «kooperativen Neutralität». Diese gehe von der Prämisse aus, «dass in der heutigen Welt die Unabhängigkeit und Sicherheit der Schweiz nur gemeinsam mit anderen erreicht werden kann». Das Neutralitätsrecht werde eingehalten, wo möglich aber «zugunsten der Kooperation ausgelegt».

Zum Beispiel bei Rüstungsexporten: «Kriegsmaterialexporte an Kriegsparteien bleiben verboten», heisst es im Bericht. Doch «zugunsten der sicherheitspolitischen Kooperation mit Ländern, die die Werte der Schweiz teilen, wird der neutralitätspolitische Handlungsspielraum grösstmöglich genutzt». So könne auf Nichtwiederausfuhr-Erklärungen von Partnern verzichtet werden.

Die kooperative Neutralität wäre «eine Weiterentwicklung des Status quo». Sie würde zum Schutz der internationalen Ordnung unter anderem «eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der EU und der Nato» erlauben. Die Präferenz Cassis' für diese Variante ist eindeutig – doch im Bundesrat vermochte er sich nicht durchzusetzen.

19. Jahrhundert: Absage an die integrale Neutralität

Nebst anderen Varianten wird auch die integrale Neutralität erörtert – jene Option, welche die SVP mit ihrer Neutralitätsinitiative anstrebt. Sie kommt in dem Bericht schlecht weg: Es handle sich um «eine Art ursprüngliches Verständnis der Neutralität, das dem 19. Jahrhundert entstammt», heisst es da. Dabei stehe das «Stillsitzen» im Zentrum.

Doch selbst wenn sich der Bund passiv verhielte, wäre er von Konflikten wie in der Ukraine betroffen, wie es im Bericht heisst:

«Die Prämisse, dass grösstmögliche Unabhängigkeit die Sicherheit eines Landes gewährleistet, ist nicht realistisch»

Die integrale Neutralität liege «nicht im Interesse der Schweiz». (aargauerzeitung.ch)

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122 Kommentare
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N. Y. P.
02.04.2023 07:25registriert August 2018
«Neutralität wird bisweilen als Vorwand verstanden, um passiv und gleichgültig gegenüber den internationalen Herausforderungen zu bleiben und (...) die wirtschaftlichen Interessen voranzubringen.»

Genau DAS ist die Schweiz.

Die G7 bringt es auf den Punkt. Wir machen mit jedem Gesindel Geschäfte. Wir lassen Gesindel (Oligarchen, Goldküste / Warlords und korrupte ex - Staatschefs aus Afrika, Genf / kriminelle Firmen, Zug etc. etc.) hier unter dem Schutz der Schweiz geschäften.

Die G7 hat mit ihren (richtigen) Fragen einen Prozess angestossen, der uns weh tun wird.

Wir sind ein Auslaufmodell.
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RicoH
02.04.2023 07:51registriert Mai 2019
Ich bin etwas überrascht über diesen Bericht. Das lässt Cassis in einem neuen Licht erscheinen. Offensichtlich habe ich ihn etwas unterschätzt.
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Doppelpass
02.04.2023 07:30registriert Februar 2014
Ganz einfach eine realistische Darstellung der Sachlage und ein vernünftiger, pragmatischer Vorschlag.
Politik funktioniert leider anders.
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