Alain Berset tritt ab. Sind Sie überrascht?
Ich dachte lange, er würde noch ein wenig bleiben. Als dann Roger Nordmann vor zehn Tagen als Fraktionspräsident zurückgetreten ist, war mir klar, dass da etwas am Köcheln ist.
Weshalb?
Nordmann ist völlig aus dem Nichts zurückgetreten, obwohl seine Kandidatur für das PUK-Präsidium ziemlich aussichtslos war. Ich gehe davon aus, dass er nicht noch einmal eine Bundesratskandidatur managen wollte.
Ist der Zeitpunkt des Abgangs gut für die SP?
Alain Berset lanciert damit den Wahlkampf der SP für die Parlamentswahlen. Im vergangenen Herbst war die SP gut unterwegs mit der AHV-Reform. Nun musste sie mit der Mindeststeuer einen kleinen Dämpfer hinnehmen. Jetzt ist der ideale Moment, um nochmals durchzustarten. Durch die Diskussionen um die Berset-Nachfolge wird die SP viel mediale Aufmerksamkeit erhalten, was für den Wahlherbst höchst willkommen ist.
Ist der Zeitpunkt des Abgangs nicht riskant für die SP?
Ein kleines Risiko gibt es natürlich. Die Grünen werden bei der Bundesratswahl im Herbst ebenfalls kandidieren. Wäre Berset erst in zwei Jahren gegangen, wäre die Chance für die SP höher gewesen, den Sitz zu verteidigen. Zudem gibt es ein weiteres Risiko.
Das wäre?
Bersets Nachfolger wird als Letzter gewählt. Das lässt die Lust der anderen Fraktionen steigen, Spielchen zu spielen. Denn keine Partei riskiert so eine Retourkutsche bei ihren Bundesräten, die schon alle gewählt sind.
Wird man sich vor allem wegen der Corona-Pandemie an Berset erinnern?
Ja, klar. Während drei Jahren war Alain Berset dauerpräsent.
Wie beurteilen Sie seine Leistung während dieser Zeit?
Unter dem Strich gesehen hat er eine gute Leistung geboten. Er musste viele Neuigkeiten verkündigen, die nicht lustig waren. Es gab zwar Kritik an ihm, aber er war ein starker Manager. Einige kritisierten ihn als Teflon-Politiker. Doch am Ende hat er diese schwierige Zeit trotz des hohen Drucks durchgestanden – das ist ihm hoch anzurechnen. Das würde ich nicht jedem anderem in diesem Bundesrat zutrauen.
War Berset auch innerhalb des Bundesrats ein Leader?
Berset hatte ein gutes politisches Gespür. Er realisierte, dass die zweite starke Figur im Bundesrat neben ihm Karin Keller-Sutter ist. Mit ihr hat er sich immer frühzeitig abgesprochen und positioniert. Das hat lang gut geklappt. Widerstand gegen sie beide war sehr schwierig. Die SVP nervte sich immer wieder, dass der Bundesrat Mitte-Links bestimmt sei. Vor einem Jahr kam es dann zum Knall zwischen Keller-Sutter und Berset, als beide das Finanzministerium übernehmen wollten. Seither war klar, dass Berset nie mehr mit jemand anderem bestimmt, welchen Kurs das Siebnergremium nimmt.
Hat Berset den Bundesrat überdurchschnittlich geprägt?
Ja. Berset ist eine Ausnahmeerscheinung. Trotz aller Kritik war er in den Beliebtheitsrankings immer weit vorne. Es ist eine seltene Kombination, dass ein Bundesrat beliebt und gleichzeitig einflussreich ist. Normalerweise sind Bundesräte entweder beliebt oder einflussreich, aber nicht beides zusammen. Adolf Ogi war zum Beispiel sehr populär, versauerte aber im VBS. Christoph Blocher war hingegen mächtig, aber nicht beliebt. Berset vereinte diese zwei Eigenschaften. Das ist in der Schweiz eine Seltenheit.
Gibt es Bundesräte aus der Vergangenheit, die diese beiden Eigenschaften ebenfalls auf sich vereinen konnten?
Nicht so wie Berset. Diejenigen, die wirklich mächtig waren, haben immer polarisiert. Ich denke da an eine Ruth Dreifuss oder an einen Pascal Couchepin.
Werden die Skandale an Alain Berset hängenbleiben?
Nein, die wird man vergessen. Das Einzige, das ihm noch gefährlich werden könnte, sind die Corona-Leaks. Hier gilt es abzuwarten, zu welchem Schluss die Geschäftsprüfungskommission kommt. Seine privaten Verfehlungen und Flugzeugeskapaden sind zwar peinlich, werden das Gesamtbild von Berset aber nicht prägen.
Wer könnte auf Alain Berset folgen?
Am wahrscheinlichsten ist ein SP-Mann aus der Deutschschweiz.
Die Grünen wollen ebenfalls antreten. Wie schätzen Sie ihre Chancen ein?
Sie hätten zwar qualifizierte Kandidatinnen, wie zum Beispiel Manuela Weichelt. Aber es wird für die Grünen sehr schwierig. Die FDP wird sich hüten, eine Grünen-Kandidatin in den Bundesrat zu wählen und der SP ein Ei zu legen. Denn die Retourkutsche der SP würde sofort folgen. Und ich glaube nicht, dass die SVP die Grünen in den Bundesrat wählen wird.
Gibt es für Sie einen Topfavoriten auf den frei werdenden Sitz?
Für mich ist Beat Jans der Favorit. Er war zehn Jahre im Nationalrat, er war Vizepräsident der Partei, er ist jetzt Regierungspräsident und überall anerkannt. Zudem hat Basel immer noch eine Rechnung offen mit dem Bundesrat.
Wie schätzen Sie die Chancen von Daniel Jositsch ein?
Wäre er bis heute geduldig gewesen, hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Aber er hat es sich bei der Sommaruga-Nachfolge mit seiner Partei verscherzt. Er hatte da Torschlusspanik und reagierte total emotional. Er wird auch dieses Mal nicht von der Partei nominiert werden.
Der Zeitpunkt des Rücktritts ist richtig gewählt.