Die Notschlafstellen in Zürich sind praktisch voll, denn immer mehr Menschen leben auf der Strasse. Doch warum ist das so? Wer sind diese Menschen? Und vor welchen Herausforderungen stehen Obdachlose in der reichen Schweiz?
watson hat mit Walter von Arburg, Sprecher der Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber, gesprochen:
Es leben in Zürich zurzeit aussergewöhnlich viele Menschen auf der Strasse. Woran liegt das?
Walter von Arburg: Wir können auch nur mutmassen. Seit rund einem Jahr beobachten wir einen auffälligen Anstieg: Diesen Sommer waren es ca. 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Gestiegene Lebenshaltungskosten könnten ein Grund sein, aber dazu fehlen Erhebungen, wir sind uns nicht sicher. Es gibt sowohl mehr ältere als auch mehr junge Obdachlose. Wir sprechen aber nicht nur von Obdachlosen.
Sondern?
Bei uns melden sich auch vermehrt Leute, die völlig vereinsamt sind. Sie leben nicht auf der Strasse, aber leiden sehr unter ihrer Einsamkeit. Vereinsamung ist eine Krankheit, das muss man ganz klar sagen.
Sie haben mehr junge Obdachlose erwähnt. Werden diese in der aktuellen Situation in ihrem Jugendangebot «Nemo» untergebracht?
Es ist wichtig, zu unterscheiden. Der «Pfuusbus» und das «Iglu», beides Notschlafstellen für Erwachsene, sind von November bis April offen, «Nemo» das ganze Jahr. Im «Nemo» bieten wir sichere Schlafplätze für 16- bis ca. 23-Jährige.
Wer landet denn im «Nemo»?
Das sind meistens junge Menschen aus sehr schwierigen familiären Verhältnissen. Viele haben Gewalt erlebt. Sie sind tendenziell in ihrer Entwicklung weniger weit als Gleichaltrige und brauchen besonderen Schutz, den sie im «Nemo» bekommen.
Und wie steht es um die Auslastung?
Im «Nemo» sind alle Plätze belegt. Eigentlich ist es auf zehn Plätze ausgelegt, im Moment sind sogar zwölf Personen dort, die meisten minderjährig. Es ist wichtig, dass sie dort sein können. Aufgrund der oft sehr schwierigen Umstände können wir sie nicht in den anderen Notschlafstellen unterbringen. Es kam sogar schon vor, dass wir niemand mehr aufnehmen konnten, weil alles voll war.
Zurück zur allgemeinen Situation: Was ist, wenn es in den Notschlafstellen keinen Platz mehr gibt?
Das «Iglu» und der «Pfuusbus» sind seit Mitte November geöffnet und schon jetzt stellen wir eine aussergewöhnlich hohe Auslastung fest, dabei stehen wir erst am Anfang der Saison. Die Atmosphäre ist schwierig. Manchmal müssen wir auch jemanden vor die Tür setzen, etwa im Fall von Gewaltanwendung. Dann sagen wir: Hey, beruhige dich erst mal, dann kannst du in ein paar Tagen wieder kommen.
Was machen Sie mit Personen, die keinen Platz mehr finden?
Wir sind gut vernetzt mit allen staatlichen und privaten Anbietern von Notschlafstellen. Wenn es bei uns keinen Platz mehr gibt, können wir die Obdachlosen vermitteln. Das funktioniert sehr gut.
Im SRF sagten Sie, viele Obdachlose hätten psychische Probleme. Können Sie das erläutern?
Das ist wirklich auffällig. Wir beobachten das seit Corona – in dem Zusammenhang gab es ja gesamtgesellschaftlich mehr psychische Erkrankungen. Aber bei uns hält der Trend an, auch wenn sich die Corona-Situation beruhigt hat. Das belastet alle: Im Pfuusbus äussert sich dies etwa darin, dass psychisch Erkrankte nachts herumschreien und sich die anderen beklagen, sie könnten nicht schlafen.
Warum kommen diese Personen denn zu Ihnen und sind nicht etwa in psychiatrischer Behandlung?
Die Psychiatrien sind noch immer überlastet. Viele Erkrankte warten lange auf einen Platz. Wer zu uns kommt, ist oft aus dem System gefallen: Sei es, weil sie nicht therapiert werden wollen oder Termine nicht einhielten. Wir sind letztlich auch eine Auffangstelle für viele Unbehandelte. Ohne stabilisierendes soziales Umfeld nehmen sie auch ihre Medikamente nicht mehr regelmässig. Gewisse verkaufen sie auch, etwa weil sie glauben, sie seien geheilt, hätten keine Probleme mehr. Die Wirkung lässt dann bald nach und das führt nicht selten zu einem Absturz. Das sind zumindest unsere Beobachtungen.
Heute kommt der Schnee. Hat das einen Einfluss auf die Situation?
Die Kälte allein ist weniger das Problem, zu schaffen macht vor allem die Luftfeuchtigkeit. 5 °C und Nässe sind sehr unangenehm, viel mehr als trockene −5 °C. Wir rechnen nicht damit, dass der Schnee gross etwas an der Situation ändert. Wir haben eine Patrouille, die jeweils die bekannten Schlafplätze in Zürich besucht. Einzelne ziehen es vor, auch bei diesen Temperaturen draussen zu schlafen. Wenn nötig, verteilen wir warme Schlafsäcke, machen aber immer auf die verschiedenen Angebote der Notschlafstellen aufmerksam. Wir fahren Obdachlose auch dorthin, wenn das gewünscht wird.
Wie kann man Ihre Arbeit unterstützen?
Neben den Schlafplätzen bieten wir wenn nötig auch Schlafsäcke und Kleider an. Wir setzen auf Militärschlafsäcke, die erfüllen die Anforderungen am besten. Weiter verteilen wir Jeans, Pullover und Handschuhe. Wir haben zu wenig Männerkleider – etwa 80 % der Obdachlosen sind Männer. Am besten unterstützt man uns mit Geldspenden. So können wir auch für medizinische Behandlungen aufkommen und jemandem etwa den Zahnarztbesuch oder spezielle Schuhe bezahlen.
Wie sieht es mit Freiwilligen aus?
Die suchen wir immer. Wir haben tendenziell zu wenig – zu Beginn der Saison sieht es gut aus, doch nach den Tagen um Weihnachten und Neujahr fallen immer wieder Freiwillige aus, sei es krankheitsbedingt oder weil sie einfach nicht mehr können. Die Arbeit bei uns ist nicht ohne, macht aber glücklich, das hören wir immer wieder.