Vor einem halben Jahr ging Ihre grösste Konkurrentin, die Reformhauskette Müller, in Konkurs. Schreibt Alnatura nun Rekordumsätze?
Boris Pesek: Nein. Es ist schade, dass mit der Reformhauskette Müller ein spezialisierter Händler verschwunden ist. Natürlich konnten wir einige Kundinnen und Kunden gewinnen. Aber grundsätzlich steht der Bio-Markt stark unter Druck.
Trotzdem möchten Sie expandieren.
Ja. Aktuell stehen zwei Filialen im Kanton Zürich vor der Eröffnung, eine in Meilen, eine in Stäfa. Wir konzentrieren uns auf die urbanen Gebiete und versuchen, nachhaltig zu wachsen, nicht aggressiv und um jeden Preis. Wichtig zu wissen, ist: Die Alnatura-Filialen werden von der Genossenschaft Migros Zürich betrieben. Wir haben mit ihr eine Partnerschaft auf Augenhöhe.
Derzeit gibt es 22 Alnatura-Filialen. Wie viele verträgt der Schweizer Markt langfristig?
Ich sehe ein Potenzial von mindestens 30 Filialen in der Deutschschweiz. Der Expansionsentscheid liegt aber letztlich bei der Genossenschaft Migros Zürich, die das Konzept hierzulande betreibt. Ich bin davon überzeugt, dass Bio weiterhin wachsen wird, auch wegen der drängenden Klimaproblematik. Hier kann der ökologische Landbau einen wichtigen Beitrag leisten.
Machen Sie um die Romandie weiterhin einen Bogen?
Wir konzentrieren uns im Moment auf die Deutschschweiz, nicht zuletzt wegen möglicher Sprachbarrieren.
Bio ist teuer, und die Bio-Produkte werden nun aufgrund der Inflation noch teurer. Wie spüren Sie das?
Die Zahl der Menschen, die bei uns einkaufen, wächst. Aber wir merken, dass die Kundschaft preisbewusster geworden ist.
Wie stark haben Sie die Preise erhöht? Als Marktführer können Sie nun ja Ihre Marktmacht ausspielen.
Die aktuelle Preissituation ist von sehr vielen externen Faktoren abhängig, angefangen bei den Rohstoffpreisen bis hin zu gestiegenen Preisen für Transport und Energie. Auch wir sind zum Teil von Preiserhöhungen nach oben betroffen, passen die Preise aber auch rasch nach unten an. Wir kalkulieren mit spitzem Bleistift und schöpfen von den höheren Preisen keinen zusätzlichen Profit ab. Wir gehen davon aus und hoffen sehr, dass sich die Preise nun zunehmend stabilisieren.
Dennoch: Wo spart Ihre Kundschaft zuerst?
Die teuren Produkte werden weniger in den Warenkorb gelegt. Insgesamt geben die Kundinnen und Kunden pro Einkauf weniger Geld aus. Das betrifft aber auch Händler, die konventionelle Produkte verkaufen. Die Konsumenten geben derzeit viel bewusster durch die Regale und fragen sich: Brauche ich das wirklich? Darunter leiden die sogenannten Zusatzkäufe. Ein schönes Stück Fleisch fällt dann beispielsweise wieder aus dem Körbli.
In Deutschland lanciert Alnatura mit «Prima» eine Bio-Billiglinie. Kommt diese auch in der Schweiz?
Wir warten zuerst ab, wie sich diese Preis-Einstiegslinie in Deutschland entwickelt. Wenn sie Erfolg hat, werden wir überlegen, ob wir sie auch in der Schweiz lancieren werden.
Wie nachhaltig kann eine solche Billiglinie überhaupt sein?
Unsere sehr hohen Qualitätsstandards bleiben dieselben. Die Produkte der Marke Prima entsprechen den strengen EU-Richtlinien für Bio-Lebensmittel. Sie bestehen genauso wie unsere Alnatura-Produkte zu 100 Prozent aus biologischen Rohstoffen. Zudem haben wir ein externes Kontrollgremium, das alle Produkte und deren Zutaten auf Nachhaltigkeit und Rohstoffe prüft. Im Vergleich zu einem klassischen Produkt haben Prima-Produkte eine einfachere Verpackungsgestaltung. Zudem wurden die Rezepturen angepasst. Im Früchtemüsli stecken beispielsweise mehr Flocken und weniger Früchte.
Alnatura gibt Verkaufspreise vor, doch letztlich entscheidet die Migros Zürich als Betreiberin der Filialen. Hält sich die Migros an Ihre Empfehlungen?
Alnatura gibt eine unverbindliche Preisempfehlung ab. Doch die Preisgestaltung liegt letztendlich bei der Migros.
Da Sie Ihre Preisempfehlung kennen, wissen Sie, was die Migros Zürich draufschlägt. Wie hoch ist die Marge?
Ja, das weiss ich. Allerdings handelt es sich um interne Informationen. Ich kann aber versichern, dass die Preisgestaltung nicht zum Nachteil der Kundschaft vorgenommen wird.
Das sieht der Preisüberwacher anders. Er hat die Marge auf Bio-Produkten im Schweizer Handel jüngst ins Visier genommen und anhand einzelner Produkte die Frage gestellt, ob hier die Anbieter nicht überzogene Margen abschöpfen. Hat er recht?
Nein. Ich finde diese Kritik zu weit hergeholt. Der Preisüberwacher müsste auch die konventionellen Preise überprüfen. Diese sind viel zu günstig. Bio hat seinen Preis. Die biologische Landwirtschaft generiert weniger Ertrag und ist aufwendig. Eine angeblich zu hohe Marge an ein paar einzelnen Produkten festzumachen, ist problematisch.
Fakt ist: Nirgends dürften die Bruttomargen im Detailhandel so hoch sein wie in der Schweiz.
Man muss auch unser Lohnniveau berücksichtigen: In der Schweiz verdient eine ungelernte Angestellte 4200 Franken, in Deutschland sind es 1200 Euro. Was zählt, ist, was unter dem Strich bleibt.
Die Frage ist doch, ob mit dem Duopol Migros und Coop der Markt ausreichend spielt. Der Preisüberwacher hat hier Bedenken.
Die Kundinnen und Kunden können aus einer breiten Palette an Anbietern auswählen. Es gibt Discounter, Migros und Coop, spezialisierte Einzelhändler und Online-Angebote.
Aldi wollte auch Bio-Suisse-Produkte mit Knospe verkaufen, scheiterte aber an den strengen Anforderungen des Verbands. Hat Sie das als Konkurrent gefreut?
Nein. Ich bin der Meinung, dass ein Label allen offenstehen sollte.
Wann läuft Ihre Kooperation mit der Migros Zürich aus?
Wir haben kein Enddatum definiert. Migros und Alnatura arbeiten gut zusammen. Alnatura-Gründer Götz Rehn schätzt die Werte Gottlieb Duttweilers sehr. Wir beliefern ja auch die Migros-Filialen mit unseren Produkten.
Mit wem telefonieren Sie häufiger, mit Migros-Zürich-Chef Jörg Blunschi oder Alnatura-Chef Götz Rehn?
Wir sind mit allen Involvierten regelmässig im Austausch.
Die Migros will ihr Supermarktgeschäft in einer neuen Supermarkt-AG zentralisieren. Gleichzeitig tritt der Chef der Genossenschaft Zürich ab. Erwarten Sie grosse Veränderungen für Alnatura im Migros-Universum?
Nein. Jeder Wechsel bringt auch Chancen, um an den Bio-Kompetenzen der Migros mitzuarbeiten.
Das heisst umgekehrt: Bisher war es selbst für Sie schwierig, in der komplexen Migros-Struktur den Durchblick zu behalten. Wird es jetzt besser?
Das wird sich zeigen. Ich schaue positiv in die Zukunft und hoffe, dass die Migros weitere Schritte vorwärtsmacht.
Ein Beispiel für die zuweilen eigenwilligen Migros-Genossenschaften ist die Genossenschaft Genf. Sie hat mit «Nature» ein Ladenkonzept lanciert, für das Alnatura prädestiniert gewesen wäre. Was versprechen Sie sich künftig von einer zentralisierteren Migros?
Mit der Supermarkt-AG erhoffen wir uns eine verstärkte Präsenz in der Westschweiz, bei der mehr «aus einem Guss» kommt.
Alnatura gibt sich nachhaltig. Doch auch bei Ihnen kommen praktisch alle Produkte mit Verpackung daher ...
... Moment, da muss ich etwas ausholen. Den grössten Nachhaltigkeitseffekt hat man bei der Herstellung, also bei der Bio-Landwirtschaft. Die konventionelle Landwirtschaft ist für bis zu 9 Prozent der Treibhausgase verantwortlich. Bei der gesamten Lebensmittelherstellung, inklusive Herstellung und Transport und so weiter, sind es 20 bis 30 Prozent. Aber der grosse Hebel ist bei der Produktion.
Ein Beispiel?
Nehmen Sie Kaffeekapseln. Das Aluminium ist nicht ideal, aber der grösste Teil der Emissionen entsteht durch den Kaffee-Anbau. Oder das beliebte Gurken-Beispiel mit der Plastikfolie. Die hat ein Gewicht von 2 Gramm. Wenn sie richtig entsorgt wird, ist das kein wirkliches Problem.
Was heisst «richtig entsorgt»?
Wenn sie hierzulande normal im Abfall landet und mit entsprechenden Filtern verbrannt wird. Wenn sie in einem anderen Land im Meer landet, gilt das natürlich nicht. Aber die korrekte Entsorgung verursacht weniger Emissionen, als wenn die Gurke ohne Folie rascher verderblich wird und als Foodwaste endet. Und bei uns stammt jedes Produkt aus dem Bio-Landbau, alles ist nachhaltig ...
... aber auch die Alnatura-Bio-Supermärkte verkaufen importierten Manuka-Honig aus Neuseeland für rund 42 Franken - das ist doch verrückt!
Wenn man radikal denkt, dann ja. Aber wenn man nur so denken würde, hätten wir nur noch 1000 Artikel im Sortiment, nicht mehr 7000. Manuka-Honig hat nun mal einen speziellen, entzündungshemmenden Stoff, den es nur in Neuseeland gibt. Nicht infrage kommt für uns hingegen der Import per Flugzeug.
Wie viele Ihrer Produkte stammen denn aus der Schweiz?
Rund 800 von insgesamt 5000 bis 6000 Artikeln. Aber alle Artikel, egal ob aus dem In- oder Ausland, sind zu 100 Prozent bio.
Manche Ihrer Filialen haben Abfüllstationen für Nüsse oder Reis. Ein Erfolg?
Wir nennen keine Zahlen. Aber es gibt eine gewisse Nachfrage auf eher tiefem Niveau.
Viele Detailhändler geben sich gerne als Nachhaltigkeitschampions, machen aber regelmässig Aktionen für Billigfleisch - auch die Migros. Was halten Sie davon?
Die Frage ist aus Händlersicht leider: Was, wenn wir es nicht machen? Dann macht es jemand anders.
Also bräuchte es mehr Regulierung.
Ich bin ein liberaler Mensch. Aber in Sachen CO2 bräuchte es in der Tat in vielen Ländern eine viel stärkere Regulierung. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass nachhaltige Produkte eine tiefere Mehrwertsteuer erhalten würden, um den Kunden einen zusätzlichen Kaufanreiz zu geben.
Der Präsident von Bio Suisse sagte kürzlich in einem Interview, die konventionellen Produkte seien heute viel zu günstig.
Da gebe ich ihm absolut recht. Viele Nahrungsmittel sind heute praktisch nichts mehr wert. Bei den Bio-Produkten sind die Herstellungskosten vollständig eingepreist. Bei den konventionellen Produkten hingegen nicht. Dabei verursachen gerade sie in der Regel langfristig die viel höheren Folgekosten für die Umwelt durch ihren Pestizideinsatz.
Bräuchte es eine CO₂-Etikette auf Produkten, die zeigt, wie nachhaltig es ist?
Das wäre eine Möglichkeit. Es gibt ja sogar schon Marken, die ihre Produkte mit Klimaneutralität bewerben. Dazu gab es in den vergangenen Monaten allerdings starke Kritik, die wir sehr ernst nehmen. Und was nebst der Nachhaltigkeitsdebatte oft vergessen wird: Biologisch hergestellte Produkte kommen ohne synthetische Düngemittel und Antibiotika aus, deren Langzeitfolgen uns noch nicht wirklich klar sind für unseren Körper.
Ergibt alles Sinn. Doch die Konsumenten geben so wenig ihres Haushaltseinkommens für Lebensmittel aus wie nie. Die Ernährung hat an Stellenwert verloren. Teure Bio-Lebensmittel sind für viele Kundinnen und Kunden vor allem eins: Luxus.
Absolut. Das ist eine unserer grössten Herausforderungen. Wir müssen die Leute überzeugen, dass es sich langfristig lohnt, sich gesünder und nachhaltiger zu ernähren, aus persönlicher wie auch gesellschaftlicher Sicht. Aber vor dem Regal entscheidet nun mal oft das Portemonnaie. Dabei muss man sich mal dieser Zahl bewusst werden: In einem Leben konsumiert ein Mensch mehrere Dutzend Tonnen Lebensmittel! Da sollten wir auf den Inhalt achten.
Wie zeichnet sich denn die Schweizer Kundschaft gegenüber jener in Deutschland aus?
Die Zahlen zeigen es: In der Schweiz erreichen die Bio-Umsätze 4 Milliarden Franken, in Deutschland sind es 15 Milliarden. Im Vergleich zur Bevölkerungsgrösse ist der Anteil hierzulande also viel grösser. Die 4 Milliarden entsprechen allerdings nur etwa 11 Prozent bei den Lebensmitteln. Der Bio-Konsum steckt also nach wie vor in den Kinderschuhen.
Was ist Ihr Blockbuster-Artikel hierzulande?
Unsere Milchersatzgetränke sind sehr gefragt, zum Beispiel unser «Hafer Drink Natur» mit Bioland-Label. Wir bieten eine Riesenauswahl an Bio-Produkten an, die es bei der Konkurrenz so nicht gibt.
(bzbasel.ch)