Es ist Freitagabend und ziemlich kalt an der Zürcher Langstrasse. Noch vor wenigen Stunden verkündete Gesundheitsminister Alain Berset der Schweiz den Ausnahmezustand. Um die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus einzudämmen und den vulnerablen Teil der Bevölkerung zu schützen, gilt ein Veranstaltungsverbot ab 100 Personen. Restaurants, Bars und Clubs dürfen nicht mehr als 50 Personen beherbergen.
Das trifft das pulsierende Zürcher Nachtleben mitten ins Herz. Exil, Plaza, Gonzo, Zukunft – sie alle verkünden die sofortige Schliessung auf ihren Webseiten, nur wenige Stunden nach der Medienkonferenz des Bundesrates. Dort wo Gesundheitminister Berset mit Nachdruck verkündete «Die Partyszene muss verstehen, dass sie nun etwas anderes tun muss, als Party zu machen.»
Ob die Szene das wirklich kann? Ein erster Augenschein gegen 21 Uhr zeigt: Dort, wo normalerweise ein Pulk Menschen unter der orange-grün-roten «Olé Olé»-Neonschrift dem Wochenende frönt, herrscht erstaunliche Ruhe. Zwei junge Männer unterhalten sich mit der Türsteherin. «Sorry, wir haben das Kontingent erreicht», entschuldigt sie sich. Drinnen: Reichlich Platz, Heiterkeit. Die Selektionstin, ebenfalls gut gelaunt, meint: «Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, weiterhin in den Ausgang zu gehen. Sich die Freude nicht nehmen zu lassen.» Wer Angst habe, könne ja zuhause bleiben.
Die beiden draussen wartenden Männer beginnen mit ihr zu diskutieren. Diese lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, erklärt, dass bereits 50 Leute – inklusive Personal – in der Bar sind. Die Männer zotteln weiter. Ja, die Massnahmen des Bundes fänden sie angebracht. Gekommen seien sie, weil sie sehen wollten, wie es an der Langstrasse denn heute so aussehe.
Ziemlich leer sieht es aktuell noch aus, im Epizentrum des Zürcher Nachtlebens. Womöglich ist es aber auch noch zu früh. Kurz nach zehn Uhr, eine Bar weiter, zeigt sich ein ähnliches Schauspiel: Die Nummer 50 prangt auf pinkem Hintergrund, hängt über einer Schiefertafel mit der Aufschrift «Bisch au scho volle?». Dahinter steht ein Türsteher mit grimmiger Miene. Kopfschüttelnd weist er einen Partygänger ab. Dieser starrt fassungslos auf die Zahl. Von aussen sieht es ein bisschen so aus, als würde drinnen ein privater Anlass gefeiert. Als wären die Gäste im Begriff, sich zum runden Geburtstag eines Fünfzigjährigen zu zuprosten.
Der breitschultrige Security der Bar blickt nachdenklich die Strasse hinauf: «Schau dich doch mal um, es ist Freitagabend, normalerweise wäre hier alles voll.» So etwas erlebt habe er noch nie. Normalerweise beginne er seine Schicht viel später, doch heute hiess es vom Chef «du musst heute früher kommen.»
«Liebe Überlebende, aus Solidarität zu 1,5 Millionen Rentnerinnen und 400’000 Menschen der Risikogruppen bleibt das Rothaus fürs erste geschlossen», heisst es auf einem handgeschriebenen Zettel ein paar Meter weiter. Eine Gruppe Jugendliche schlendert vorbei. Die Hände halten beschützend Flaschen und Dosen. Etwas planlos blicken sie umher. Erhaschen hie und da einen Blick ins Innere einer noch nicht geschlossenen Bar. Hoffen auf ein noch nicht ausgeschöpftes Platzkontigent.
Wo es kein Platz mehr im Innenbereich hat, sitzen die Langstrassenbesucher draussen, auf Stühlen, in Decken gehüllt. Es ist zehn Grad über Null. Eigentlich noch etwas zu kalt, um eisgekühlte Drinks auf Aussenterrassen zu schlürfen. «Wir wollen Ausgang, wir wollen Nightlife. Ich gehöre ja schliesslich nicht zur Risikogruppe», meint ein bereits gut angeheiterter Barbesucher. «Etwas mehr Freiheit wäre schon gut», fügt er hinzu.
«Heute war der einzige Termin, an dem wir alle konnten», meint eine Dreiergruppe. In Clubs gehen würden sie ja nicht. Dort könne man das Social Distancing ja nicht mehr wahrnehmen. «Aber hier draussen, für ein zwei Bier, das sollte doch kein Problem sein», meinen sie.
Strasse auf, Strasse ab, wo man fragt, die News haben alle gehört. Einige reagieren mit Augenrollen. Haben keine Lust mehr über das Thema zu sprechen. Wirken übersättigt. «Dieses Corona ist doch overhyped. Es ist zu viel in den Medien», meint ein 18-Jähriger.
Ende Langstrasse, der Zeiger rückt näher in Richtung zwölf, steht ein Türsteher vor dem Plaza auf einem Vorsprung und blickt auf die Reporterin hinab. Nur die Bar ist offen, der Club bleibt geschlossen. «Jetzt haben wir die 50 erreicht. Mal schauen, wie die Gäste auf meine weitere Abweisung reagieren.» Das sei auch für ihn neu, diese ganze Situation. Er schüttelt traurig den Kopf. «Sogar meine Ferien absagen musste ich. Reisen darf man ja auch nicht mehr.»
Ein Polizweiwagen fährt vorbei. In einer Ecke kichert eine Gruppe Frauen vor sich hin. Rauchend schütteln sie den Kopf. Vor der Kamera etwas sagen? Lieber nicht. Sie seien zu scheu, zu betrunken. Spass zu haben, scheinen sie aber weiterhin.
Die Kälte frisst sich langsam durch Jacken und Schuhe. Doch noch immer stehen viele Partygänger vor den Bars. Warten auf Freunde. Stossen auf den Beginn des Wochenendes an. Möchten sich endlich einmal über etwas anderes als das Coronavirus unterhalten, wie eine junge Frau verschmitzt meint.
Die Szene mag nicht auf ihre Party verzichten. Vor dem Virus zu fürchten, scheint sich hier niemand. Darüber Bescheid wissen sie alle. Und immer wieder fällt die Begründung, man selbst gehöre ja nicht zur Risikogruppen. Die Grosseltern? Die besuche man halt einfach nicht mehr. Ob das reicht, um die Epidemie einzudämmen, wird sich zeigen. Noch hat der Bund keine ausserordentliche Lage ausgerufen. Kommt es dazu, wird wohl auch die Langstrasse dicht machen müssen. Und die Partygäste müssten dann definitiv die Party sein lassen.
Das ist echt unglaublich wie egoistisch manche Menschen sind.