Bis vor kurzem interessierten sich die wenigsten Menschen für Epidemiologie. Das hat sich mit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie schlagartig geändert. Der Lausanner ETH-Professor Marcel Salathé und seine Kollegen gehören zu den gefragtesten Stimmen in der Krise.
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Der Bundesrat hat am Freitag ein verschärftes Veranstaltungsverbot und Schulschliessungen beschlossen. Reichen diese Massnahmen aus, um die Zahl der neuen Ansteckungen zu reduzieren?
Marcel Salathé: Es sind die richtigen Massnahmen, um die Ansteckungskurve abzuflachen. Ob sie genügen, das weiss niemand. Andere Länder wie Südkorea sind deutlich weitergegangen als der Bundesrat und konnten die Kurve damit nicht nur abflachen, sondern sogar nach unten drücken.
Welche zusätzlichen Massnahmen wären aus epidemiologischer Sicht notwendig?
Ich würde mir sehr wünschen, dass die Schweizer Behörden das Testen von potenziell infizierten Personen nicht nur auf Menschen aus den Risikogruppen beschränken. Wir befinden uns in einem Krieg gegen eine exponentielle Ansteckungskurve und dürfen es nicht akzeptieren, dass die Testkapazitäten auf diesem niedrigen Niveau bleiben. Es gibt keine Entschuldigung. Wir müssen die Kapazitäten ungeachtet der Kosten massiv hochfahren. Wir haben einen Zivilschutz und eine Armee, die wir dafür einsetzen könnten. Ich sehe das als Frage des politischen Willens.
Immerhin kann die Schweiz mittlerweile 2000 Tests pro Tag durchführen. Laut dem Bundesamt für Gesundheit ist das im europäischen Vergleich ein Spitzenwert.
Es ist schön, dass man das Möglichste macht. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass 2000 Tests pro Tag in einem der reichsten Länder der Welt mit einer führenden Pharma- und Medtech-Industrie das Maximum sind. Südkorea schafft 10000 Tests pro Tag, das müssten wir auch anstreben. Ich bin irritiert von der leicht aufgebenden Haltung der Behörden. Es geht um Leben um Tod.
Warum sind die Virus-Tests so essenziell bei der Bekämpfung der Pandemie?
Flächendeckende Tests erlauben es den Behörden, die Ausbreitung des Virus realistisch einzuschätzen und zu messen, ob die ergriffenen Eindämmungsmassnahmen wie Schulschliessungen den gewünschten Effekt haben. Aus epidemiologischer Sicht sind flächendeckende Tests sinnvoll, weil die Behörden so einen Grossteil der infizierten Personen identifizieren und isolieren können.
Ist dieses Vorgehen im jetzigen Stadium überhaupt noch praktikabel?
Momentan ja. Ab einer gewissen Ansteckungszahl wird es aber sehr schwierig. Trotzdem sind wir es der Bevölkerung schuldig, dass wir möglichst viele infizierte Menschen identifizieren und isolieren. Wenn die Menschen ins Spital kommen, ist es oft schon zu spät.
Wie beurteilen Sie als Epidemiologe die Leistung des Bundesamtes für Gesundheit? Hat die Behörde die Situation im Griff?
Für mich ist das von aussen schwer zu beurteilen. Das BAG involviert uns Wissenschaftler nicht in die Bekämpfung der Pandemie. Das soll keine Kritik sein. Ich beobachte einfach, dass die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsbehörden und Wissenschaftlern in anderen Ländern viel enger ist.
Haben Sie und Ihre Fachkollegen dem Bund Ihre Hilfe angeboten?
Wir sind auf das BAG zugegangen und werden das auch weiterhin tun. Ich würde es gerne sehen, wenn der Bund beispielsweise eine wissenschaftliche Taskforce aus Virologen, Spitaldirektoren und Epidemiologen einberufen würde. Es geht mir nicht um mich selbst. Ich finde aber, die Wissenschaft und der Bund sollten stärker zusammenarbeiten.
Was sind die neusten Erkenntnisse zur Mortalitätsrate, also der Quote der Menschen, die sich mit dem neuen Coronavirus infizieren und daran sterben?
Die Sterblichkeitsrate ist leider etwa so hoch, wie wir sie schon zu Beginn eingeschätzt haben: etwa bei einem Prozent. Die Zahl ist nicht gesunken, zum Glück auch nicht gestiegen. Wir dürfen uns aber in der Schweiz keinen Illusionen hingeben: Es werden weitere Todesfälle dazukommen. Bei schwerwiegenden Krankheitsfällen dauert es in der Regel zirka drei Wochen bis zum Tod. Es ist zu befürchten, dass die Mortalitätsrate in überforderten und schwachen Gesundheitssystemen noch höher liegt. Wir müssen in der Schweiz alles daran setzen, damit unsere Spitäler nicht überlastet werden.
Wo steht die Entwicklung von neuen Impfstoffen und Therapien?
Optimisten sprechen von einem halben Jahr, bis wir einen Impfstoff haben. Ich persönlich hoffe schon, dass es uns als Weltbevölkerung gelingt, in den nächsten Monaten alle unsere Ressourcen auf dieses singuläre Problem auszurichten. Etwas grösser schätze ich die Chancen auf einen raschen Durchbruch bei der Therapierung von schwer erkrankten Covid-19-Patienten ein. Weltweit testen Ärzte verschiedene antivirale Medikamente. Im besten Fall könnte ein Heilmittel die Ausbreitung des Virus zwar nicht stoppen, aber den Krankheitsverlauf bei schweren Fällen massiv abschwächen. Das wäre eine Riesenerleichterung.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte diese Woche, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem neuen Virus infizieren könnten. In der Schweiz wären das bis zu sechs Millionen Infizierte und 60'000 Tote. Ist das eine unausweichliche Tatsache oder vor allem eine theoretische Annahme?
Das ist das Worst-Case-Szenario für den Fall, dass wir nichts gegen die Ausbreitung des Virus unternehmen. Dieses Szenario wird aber nicht eintreffen, weil wir bereits umfangreiche Gegenmassnahmen ergriffen haben. Trotzdem ist es wichtig, dass man solche Szenarien durchspielt. Die politischen Entscheidungsträger müssen sich bewusst sein: Die Durchseuchung ist keine Option. Die finanziellen und menschlichen Kosten wären viel zu hoch.
Bald beginnt der Frühling. Wird sich die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus mit den steigenden Temperaturen verlangsamen, wie man das von der saisonalen Grippe kennt?
Es wäre plausibel und würde im Prinzip niemanden überraschen. Aber im Moment wissen wir zu wenig über das Virus, damit wir auf eine massive Erleichterung hoffen können. Wir können unsere Eindämmungsbemühungen nicht auf das Prinzip Hoffnung abstützen. Wir müssen jetzt alles daran setzen, damit wir eine Entwicklung wie in Italien vermeiden können. Mein Aufruf an die Schweizer Behörden ist noch einmal, dem Beispiel der Südkoreaner zu folgen und die Testkapazitäten massiv auszuweiten.
- bitte, was?
Doch, das soll eine heftige Kritik (am Bund) sein!
«Ich würde es gerne sehen, wenn der Bund beispielsweise eine wissenschaftliche Taskforce aus Virologen, Spitaldirektoren und Epidemiologen einberufen würde.»
... Und warum ist sowas nicht selbstverständlich?
Irgendwie scheint der Bund diesbezüglich seltsam organisiert.
Oder gibt es gute Gründe? Ist das bloss Salathés Inselsicht?
- Restaurants mit z.T. locker über 50 Personen.
- Andere Restaurants oder kleine Cafés bei denen alle dicht gedrängt aneinander stehen oder sitzen, auch wenn unter 50.
- Bund und Kanton können es leider nicht durchsetzen, und mit Eigenverantwortung hat sich noch selten ein Problem gelöst.
Daher, „Reicht das?“ Nein!