Schweiz
Justiz

Eine Ausschaffung dauert vier Jahre

Eine Ausschaffung dauert vier Jahre – die Belastung für die Gerichte ist enorm

Kriminelle Ausländerinnen und Ausländer bleiben länger in der Schweiz, weil Gerichte und Staatsanwaltschaften überlastet sind.
21.12.2021, 07:16
Andrea Tedeschi / ch media
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Seit fünf Jahren schafft die Schweiz kriminelle Ausländer aus. So will es der Volksentscheid über die SVP-Ausschaffungs-Initiative. Die Umsetzung bringt Richterinnen und Richter jedoch an die Grenzen der Belastbarkeit. «Viele Gerichte sind nach wie vor personell knapp dotiert, obwohl die Fallbelastung markant gestiegen ist», sagt Patrick Guidon (SVP), Vizepräsident des Kantonsgerichts St.Gallen. Sein Kanton steuert bis Ende Jahr auf einen neuen Höchststand zu, mit voraussichtlich 237 Fällen – doppelt so viel wie vor drei Jahren.

Die Ausschaffung von kriminellen Ausländern bedeutet eine grosse Mehrbelastung für die Schweizer Gerichte.
Die Ausschaffung von kriminellen Ausländern bedeutet eine grosse Mehrbelastung für die Schweizer Gerichte.Bild: Keystone

Schon früh prophezeite der frühere Präsident des Schweizer Richterverbands eine Prozessflut. «Die Belastung ist über alle Instanzen hinweg sogar deutlich grösser, als ich gerechnet hatte», sagt Guidon.

Denn 59 Straftaten haben einen Landesverweis zur Folge. Mord oder Vergewaltigung zum Beispiel, aber auch leichtere Delikte wie Ladendiebstahl oder Sozialmissbrauch. Bagatellen wie diese erledigt die Staatsanwaltschaft gewöhnlich mit einem Strafbefehl. Da sie jedoch zu einer Ausschaffung führen können, muss der Richter die Strafe anordnen. Das führt zu aufwendigeren Verhandlungen – es braucht Anklage, Pflichtverteidiger, Plädoyer, schriftliche Urteilsbegründung –, aber auch zu mehr Prozessen.

Je länger der Prozess, desto länger bleiben sie

Das Bundesamt für Statistik (BFS) wies vor zwei Jahren über 3000 rechtskräftige Urteile aus. Weil das BFS die Einsprachen aber nicht mitzählt, ist die Fallzahl in den Kantonen wesentlich höher: um zwölf Prozent mehr in Zürich oder sogar um die Hälfte in St. Gallen. Hochgerechnet macht das schweizweit über 4000 Fälle.

«Fast jedes Urteil, das eine Ausschaffung nach sich zieht, wird angefochten», sagt Martin Langmeier, Präsident des Obergerichts des Kantons Zürich. In rund 80 Prozent dieser weitergezogenen Fälle müssten die Angeklagten die Schweiz verlassen.

Menschen, die in der Schweiz geboren sind oder ein Aufenthaltsrecht haben, ziehen die Fälle häufig bis ans Bundesgericht weiter. So können sie in der Schweiz bleiben, bis der Prozess beendet ist. Das sind vier Jahre, wie mehrere Richter bestätigen. Auch die Staatsanwaltschaft macht Einsprachen, wenn das Gericht statt einer Ausschaffung einen für sie unklaren Härtefall entschieden hat. Etwa, wenn ein Straftäter bleiben darf, weil er sein Heimatland nicht kennt.

Um die Mehrbelastung zu bewältigen, haben die St. Galler Gerichte in fünf Jahren drei Stellen mehr bekommen. «Das reicht jedoch nicht», sagt Guidon. Die Zürcher Gerichte haben ermittelt, dass sie 19 weitere Richterstellen bräuchten. Sie haben diese kürzlich beim Kantonsrat beantragt.

Kommt hinzu, dass auch die Kriminaltouristen die Gerichte intensiv beschäftigten und sie schnell entscheiden sollten, weil Fluchtgefahr besteht. Guidon sagt: «Die Möglichkeit einer Landesverweisung per Strafbefehl wäre hier eine Entlastung.»

Bundesrat überprüft Deliktekatalog

Das sieht auch der Nationalrat so. Eine Mehrheit will Ausschaffungen bei leichten und eindeutigen Fällen wie Kriminaltouristen per Strafbefehl durch die Staatsanwaltschaft zulassen. Doch der Ständerat hat rechtsstaatliche Einwände und lehnte die Ausschaffung per Strafbefehl kürzlich ab. «So wie die Motion formuliert ist, käme eine Ausschaffung per Strafbefehl auch bei gut integrierten Menschen in Frage», sagt Ständerat Mathias Zopfi (Grüne/GL). Diese Fälle müssten weiter vor einen Richter.

Der Nationalrat will den Entscheid nicht akzeptieren. Der Landesverweis per Strafbefehl sei von allen Lösungen die kostengünstigste, sagt Nationalrat Marco Romano (Die Mitte/TI), obwohl umstrittene Strafbefehle wieder über Einsprachen ans Gericht gelangen können. «Was gleichwohl wieder die Gerichte belastet», sagt Martin Langmeier vom Zürcher Obergericht, der kaum Möglichkeiten für eine Entlastung sieht. Hoffnung besteht dennoch.

Der Bundesrat will erstens die Delikte überarbeiten, die eine Ausschaffung zur Folge haben, und zweitens eine weitere Motion umsetzen, die Kriminaltouristen rascher ausweist. Zopfi sagt: «Ein zusätzlicher Auftrag des Parlaments ist also nicht mehr nötig.» (bzbasel.ch)

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57 Kommentare
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Müller Lukas
21.12.2021 08:27registriert August 2020
Es gibt wohl keine Patentlösung für das Problem.
Das Ziel ist und bleibt, kriminelle Ausländer so schnell und konsequent wie möglich auszuschaffen, und ihnen nicht mehr Rekursmöglichkeiten wie unbedingt nötig zu geben!
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Helvetiavia Philipp
21.12.2021 08:45registriert Februar 2018
Man muss sich vor Augen halten, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung nie wegen einer Landesverweis-Katalogtat verurteilt wird. Vor diesem Hintergrund sollte der Landesverweis per Strafbefehl eingeführt werden.

Wer nicht einverstanden ist, kann ihn anfechten. Da viele den Strafbefehl nicht verstehen und die 10-tägige Einsprachefrist streng ist, sollte die Staatsanwaltschaft im Zweifelsfalle eine Übersetzung mitliefern, damit die Beschuldigtenrechte gewahrt sind.
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