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Verdächtiger Bancomatensprenger kommt frei und kassiert 100'000 Franken

Tatort Sevelen SG, Dezember 2019: Die Wucht der Explosion schleudert die Abdeckung aufs Trottoir.
Tatort Sevelen SG, Dezember 2019: Die Wucht der Explosion schleudert die Abdeckung aufs Trottoir.bild: kapo sg

Verdächtigter Bancomaten-Sprenger wird freigesprochen und soll 100'000 Franken kassieren

Mit dem ersten Strafverfahren gegen moderne Panzerknacker wollte die Bundesanwaltschaft künftige Täter abschrecken. Stattdessen demonstriert sie nun ihre Mühe, die Verbrechen zu beweisen.
17.06.2023, 13:1019.06.2023, 11:31
Andreas Maurer / ch media
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Um 1.33 Uhr knallt es in Sevelen SG, einem Dorf an der Landesgrenze. Zwei Täter zünden am Raiffeisen-Automaten an der Bahnhofstrasse einen Sprengsatz. Wenige Minuten später rennen sie mit einem Rucksack voller Bargeld davon und werfen ihre Werkzeuge in eine Hecke.

Der Knall weckt mehrere Anwohner. Sie treten vor ihre Fenster und beobachten zwei Gestalten. Die eine Person werden sie als mindestens 1.80 Meter gross, die andere als deutlich kleiner, etwa 1,70, beschreiben.

Als die Spurensicherung die Umgebung absucht, findet ein Polizeihund eine blaue und eine schwarze Brechstange im Gebüsch. Die Lackspuren am Bancomaten passen dazu. Und: Auf den Werkzeugen haftet DNA-Material von zwei Rumänen, gegen die in Europa mehrere Ermittlungen wegen Bancomaten-Sprengungen laufen.

Der eine wird als Dumitru P. identifiziert. Die Ermittler finden ein weiteres Indiz: Kurz nach der Tat loggte er sich mit seinem Handy ins WLAN eines österreichischen Cafés ein, 40 Kilometer vom Tatort entfernt.

So viel Glück hat die Bundesanwaltschaft selten. Die meisten Bancomaten-Sprenger hinterlassen keine persönlichen Spuren. Deshalb wird der Fall Sevelen zum ersten prestigeträchtigen Verfahren, mit dem die Strafverfolgungsbehörde gegen das neue Phänomen vorgeht.

Das Urteil soll ein Signal an die international agierenden Gangster werden. Hohe Strafen sollen sie von weiteren Attacken in der Schweiz abschrecken. Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Sicherheit. Die Explosionen können für Anwohner lebensgefährlich sein.

So knallt es: Testsprengung eines Bancomaten durch die Bundespolizei und das Forensische Institut Zürich.Video: YouTube/Swiss Federal Police fedpol

Die Bundesanwaltschaft verlangt deshalb zehn Jahre Gefängnis. Ende 2021 verhängt die erste Instanz des Bundesstrafgerichts gegen Dumitru P. eine Freiheitsstrafe von immerhin sechs Jahren. Sein mutmasslicher Komplize wird in einem separaten Verfahren beurteilt, weil er zuerst noch in Dänemark wegen weiterer Sprengungen vor Gericht muss.

Der Verdächtige ist bereits aus dem Gefängnis spaziert

Doch jetzt hat die zweite Instanz des Bundesstrafgerichts – bisher unbemerkt von der Öffentlichkeit – ein folgenreiches Urteil gefällt. Die Berufungskammer hebt den Schuldspruch auf und verfügt, dass der inzwischen 32-jährige Rumäne sofort aus dem Gefängnis entlassen wird. Pro Hafttag soll er 100 Franken plus fünf Prozent Zins erhalten. Er sass 999 Tage. Deshalb soll ihm die Eidgenossenschaft 100'000 Franken überweisen.

Für die Bundesanwaltschaft ist das ein Fiasko. Sie hat zwar Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Aber selbst wenn das höchste Gericht das Urteil dereinst korrigieren sollte, wäre der Täter dann längst über alle Berge.

Bis vor kurzem konnte die Anklagebehörde auch gegen Haftentscheide Beschwerde einlegen. Doch das Parlament hat diese Möglichkeit kürzlich abgeschafft. Die Mehrheit wollte damit die Unschuldsvermutung stärken. Die SVP warnte vergeblich, dass Verdächtigte dadurch zu früh entlassen werden könnten.

Irgendetwas hat er mit der Tat zu tun, aber was?

Im Fall Sevelen ist klar: Irgendetwas hat Dumitru P. mit der Bancomaten-Sprengung zu tun. Es lässt sich nur nicht beweisen, was genau. Deshalb hat das Gericht im Zweifel für den Angeklagten entschieden.

Die DNA-Spur ist kein Beweis, sondern nur ein Indiz. Es könnte sein, dass das Genmaterial vor der Tat auf das Werkzeug gelangt ist, erwägt die zweite Gerichtsinstanz. Dumitru P. führte nämlich eine Baufirma, für die auch der mutmassliche Komplize tätig war. Dieser könnte das Werkzeug entwendet haben. Im Baugeschäft seien die Brechstangen gebraucht worden, um Gipsplatten zu lösen, so verteidigte sich der Beschuldigte.

Die Bundesanwaltschaft und die erste Instanz des Bundesstrafgerichts halten diese Argumentation für unglaubwürdig. Sie gehen davon aus, dass das Baugeschäft eine Scheinfirma war, weil eine Buchhaltung fehlte. Die zweite Instanz hingegen nimmt an, dass das Unternehmen von Schwarzarbeit lebte und nur deshalb keine Administration führte.

Des membres de la police scientifique de la Gendarmerie vaudoise, inspectent l'explosion du bancomat de la Raiffeisen apres un braquage le jeudi 2 fevrier 2023 a Biere. (KEYSTONE/Jean-Christophe  ...
Tatort Bière VD, Februar 2023: Spurensicherung im Trümmerfeld.Bild: keystone

Der Berufungskammer fällt zudem ein Widerspruch auf, der vor der ersten Instanz kein Thema war. Der andere Rumäne ist 1.75 Meter gross und geständig. Dumitru P. ist nur zwei Zentimeter kleiner und passt somit nicht zur Beschreibung der Anwohner. Sein Kollege verweigerte die Aussage zur Frage, ob Dumitru P. sein Komplize war. Er stritt es aber auch nicht ab.

Die Bundesanwaltschaft hingegen hat andere Widersprüche betont. So gab Dumitru P. in den Einvernahmen unterschiedliche Antworten auf die Frage, wo er zur Tatzeit war.

Zuerst behauptete er, bei seinem kranken Vater in Rumänien gewesen zu sein. Als er später mit seinen Handydaten konfrontiert wurde, passte er die Aussage an. Er sei auf einer Baustelle in Österreich nahe der Landesgrenze gewesen. Das passt zu den Handydaten. Die zweite Instanz findet es nicht ungewöhnlich, dass sich der Beschuldigte zuerst nicht richtig erinnern konnte.

Der Verdacht, dass Dumitru P. an der Tat beteiligt war, lässt sich damit nicht aus der Welt schaffen. Er ist vorbestraft als Verbrecher, der für seine Taten durch Europa tourte, und stand in engem Kontakt mit Bancomaten-Sprengern. Sein Auto wurde für mehrere Sprengungen in Österreich verwendet. All dies mache ihn tatsächlich verdächtig, doch damit könne ihm die Tat nicht nachgewiesen werden, argumentiert nun das Gericht.

Es könnte auch sein, dass er als Koordinator im Hintergrund beteiligt war, heisst es im neuen Urteil. Doch weil die Bundesanwaltschaft diese Variante nicht angeklagt hat, geht das Gericht nicht näher darauf ein.

Die Bilanz: Viele Fälle, wenige Verurteilungen

Die Serie der Bancomaten-Sprengungen begann in der Schweiz 2018. Seither wurden 110 Geldautomaten gesprengt. Bei der Bundesanwaltschaft sind derzeit zu 60 Fällen Verfahren hängig. Neben dem Fall Sevelen hat sie bisher erst einen weiteren Beschuldigten wegen einer Bancomaten-Sprengung vor Gericht gebracht. Ein Rumäne wurde wegen eines Falls in Buchberg SH erstinstanzlich verurteilt, wegen eines anderen in Wilchingen SH aber freigesprochen.

Inzwischen wissen die Ermittler immerhin mehr über die Szene. Die Bundespolizei Fedpol hat folgendes Lagebild erstellt.

1. Sprengstoffangriffe: Die Täter sind meist rumänisch-moldauischer oder niederländischer Herkunft.

2. Gassprengungen: Die Spuren führen zu französischen, serbischen und rumänischen Tätergruppierungen.

3. Aufbrüche: Sie sind vor allem Tätern aus dem albanischsprachigen Raum zuzuordnen.

Die Bancomaten-Sprenger sind in der Regel auch in weiteren Kriminalitätsfeldern aktiv. Viele niederländische Gangster haben Verbindungen zur belgischen Mafia, die den europäischen Drogenhandel prägt. Rumänisch-moldauische Gruppierungen sind auch auf Ladendiebstähle und Prostitution spezialisiert.

Geldautomaten-Angreifer seien keine Kleinkriminellen, heisst es im neusten Fedpol-Jahresbericht. Im Gegenteil: «Sie sind gut organisiert, schnell und der Polizei stets einen Schritt voraus.»

Gefährliches Geschäfts: Wer hat's erfunden?

Das kriminelle Geschäftsmodell entstand in den Niederlanden. Dort reagierten auch die Banken zuerst: Sie bauten Geldautomaten ab, erhöhten die Sicherheit, reduzierten die gelagerten Bargeldmengen und schlossen einige Geräte nachts. So verlagerten sich die Angriffe nach Deutschland.

Als auch deutsche Geldinstitute Massnahmen ergriffen, wichen die Täter in die Schweiz aus. Hier trafen sie auf günstige Voraussetzungen: eine hohe Bancomaten-Dichte, grosse Summen in den Maschinen und bescheidene Sicherheitsvorkehrungen.

Polizisten stehen vor einem gesprengten Bancomat der Raiffeisen-Bank, am Freitag, 23. November 2018, in Coldrerio. Unbekannte hatten in der Nacht auf heute den Bancomat gesprengt und Geld entwendet. A ...
Tatort Coldrerio TI, Februar 2018: Polizisten stehen vor einem gesprengten Bancomaten.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS

Die Täter sind vor allem in ländlichen Gemeinden im Nordwesten und Westen der Schweiz aktiv. Jede zweite Sprengung erfolgt in den Kantonen Bern, Aargau, Zürich oder Waadt. Aber auch kleinere Kantone wie Solothurn, Baselland und Luzern befinden sich unter den betroffenen Kantonen. In der Ostschweiz hingegen ist es auffallend ruhig. Nach dem Fall Sevelen 2019 kam nur noch eine Sprengung im Thurgau hinzu.

Die Statistik enthält noch eine gute Nachricht: Die Kadenz der Sprengungen geht zurück. Im Durchschnitt fliegt nicht mehr alle zwei Wochen ein Bancomat in die Luft, sondern nur noch einer pro Monat.

Bisher stritten die Banken ab, ein Sicherheitsproblem zu haben. Nun scheint ein Umdenken stattzufinden. Derzeit wird durchschnittlich jeden Tag ein Bancomat irgendwo in der Schweiz aufgehoben. Die verbleibenden Geräte werden mit Systemen aufgerüstet, die Banknoten bei einer Sprengung unbrauchbar machen. Vielleicht zeigen die Sicherheitsvorkehrungen nun Wirkung.

Die Schadensbilanz bleibt beträchtlich. Allein im Fall Sevelen sind bis jetzt Kosten von 656'000 Franken entstanden:

  • Bargeldverlust: 126'000 Fr.
  • Sachschaden: 100'000 Fr.
  • Verfahren: 80'000 Fr.
  • Gefängnis: 250'000 Fr.
  • Entschädigung: 100'000 Fr.

Vorläufiges Fazit: Ausser Spesen nichts gewesen.

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Ein Tag im Gefängnis
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Ein Tag im Gefängnis
In der geschlossenen Anstalt in Affoltern am Albis sitzen 65 Häftlinge ein, 23 Aufseher kümmern sich um sie.
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63 Kommentare
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Boomer & Boomer GmbH.
17.06.2023 13:58registriert Juli 2019
“Die verbleibenden Geräte werden mit Systemen aufgerüstet, die Banknoten bei einer Sprengung unbrauchbar machen.”


Finde ich eher eine gute Idee als Bankomaten und Bargeld abschaffen.
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Icetabby01
17.06.2023 15:11registriert Mai 2021
Wir könnten den potentiellen Bankräubern doch schon im Vorfeld 100‘000 anbieten wenn sie dafür auf die Sprengung verzichten…käme billiger.
Einfach ein sogenanntes Nicht-spreng-Formular ausfüllen, inkl. Bsnkverbindung…fertig
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Risotto
17.06.2023 14:35registriert Mai 2021
Wo gibt’s diese Sprengsätze zu kaufen?
Ich gehe davon aus, dass Kost und Logie im Gefängnis gratis sind und die Knete, die sie mir hinterherschieben steuerfrei.
Gibt’s einen TV in der Zelle?
Könntet ihr das bitte noch abklären und ergänzen. Merci
Ich frage für einen Freund
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