Geboren und aufgewachsen in Pristina (Kosovo) gab es in meiner Kindheit folgende Fragen, die mich immer brennend interessierten: Warum hing in allen öffentlichen Räumlichkeiten, die ich betrat, das Bild desselben alten, weissen Mannes? Und: Wer stellte eigentlich unseren Strom ständig ab und warum?
Ich erfuhr schnell, dass es sich bei dem Mann mit dem unverwechselbaren Resting Bitch Face um das Staatsoberhaupt Jugoslawiens, Josip Broz Tito, handelte. «Der hängt da nicht mehr lange», meinte meine Mutter einmal beiläufig, mit einem eher passiv-aggressiven Ton.
Die Antwort auf meine Elektrizitätsfrage lieferte indes mein Vater während eines sogenannten Blackouts: «Wenn Kinder nicht auf ihre Eltern hören, stellt man uns den Strom ab», versuchte mich Baba zu gaslighten, während er eine brennende Kerze unmittelbar vor seinem Gesicht hielt, seine Augen weit aufriss und dabei versuchte, furchteinflössend zu lachen.
Was ich damals nicht verstand: Der zu meiner Kindheit bereits tote Tito hatte es nicht geschafft, das sozialistische Jugoslawien mit genügend Elektrizität zu versorgen. «Dunkel und traurig» titelte deshalb «Der Spiegel» in einem 1984 erschienenen Artikel im Hinblick auf die Olympischen Winterspiele desselben Jahres in Sarajevo. Strom war knapp und es mussten Sparmassnahmen her, also wurde die Elektrizität rationiert. Hiess für die Bevölkerung: regelmässige Stromausfälle.
Als Kind fand ich diese Stunden ohne Strom eher aufregend, als dass ich im Dunkeln Angst gekriegt hätte. Ich machte mir einen Spass daraus, mich im Haus zu verstecken, die Erwachsenen bei ihrem Kaffeekränzchen draussen auf der Terrasse zu erschrecken oder mir mein Lieblingsbuch bei Kerzenlicht vorlesen zu lassen. Zugegeben: Elektrizität spielte während meiner Kindheit eine sehr nebensächliche Rolle. Wenn auch mein Vater beim Staatsfernsehen arbeitete und ich an elektronische Geräte sehr gewohnt war.
Meine Eltern waren ohnehin Profis, wenn es darum ging, ohne Strom im Alltag auszukommen. Es wurde gekocht, wenn Strom da war, der Znacht war deshalb manchmal schon am Morgen fertig zubereitet. Und wehe, ich liess das Wasser beim Zähneputzen laufen.
Kerzen standen überall in jeder Ecke allzeit bereit. Unvergesslich auch: Der kleine rote Gaskocher, mit dem meine Eltern und unsere Nachbarn ihren Kaffee oder Tee trotz fehlender Elektrizität geniessen konnten. Ich musste aber auch nicht lange unter solch «herausfordernden» Umständen leben. Aufgrund des drohenden Krieges in meiner Heimat flüchteten meine Eltern Anfang der 90er Jahre mit mir und meinem Bruder in die Schweiz.
Hier gab es zwar keine Kaffeekränzchen mit den Nachbarn, dafür aber viel Strom.
Genau drei Jahrzehnte später droht nun meinen Kindern ein etwas ähnliches Schicksal wie mir damals im Kosovo: Der Präsident der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom), Werner Luginbühl, warnte neulich in der «NZZ am Sonntag», dass wir kommenden Winter «im schlimmsten Fall» mit stundenweisen Stromausschaltungen auskommen müssten. Brennholz und Kerzen sollen zur Genüge zu Hause gelagert werden, rät uns der alte, weisse Mann.
Doch lassen sich damit unsere elektronischen Geräte aufladen? Müssen wir nun im Winter mit Socken, Pullis und langen Hosen in der Wohnung herumirren und bei Kerzenlicht unser Handy suchen? Laufen wir Gefahr, dass unsere Smartwatch diesen Winter womöglich keinen Akku hat? Müssen wir infolge fehlender Herzfrequenz-Daten selber spüren, wann wir in Aufregung geraten?
Wie reiben sich junge Männer am ersten Date an ihre grosse Liebe, wenn E-Trottis in den Schweizer Grossstädten reihenweise ausfallen? Was macht der Hardcore-Twitter-User, wenn das Zwitschern verstummt? Droht diesen Winter das grosse Verpassen der wichtigsten TikTok-Trends? Und überhaupt: Funktionieren Filter bei Kerzenlicht?
Als erfahrene Stromausfall-Kennerin rate ich: Kocht euch einen grossen Topf albanischen Pasul, dieser ist auch kalt geniessbar und hält lange. Beschafft euch einen kleinen Gaskocher und wenn der Strom ausfällt: Macht ein Kaffeekränzchen mit euren Nachbarn!