Der Schnitt passt, die Frisur sitzt: Ali Erol (Name geändert) legt Schere und Haarschneider weg, als wir ihn kurz vor Feierabend einen Tag vor Heiligabend im Coiffeurgeschäft treffen. Wieder hat er einen Menschen aufgehübscht. Wenn er seinen Kundinnen und Kunden später auf der Strasse begegnet, denkt er manchmal: «Die sind dank mir attraktiver geworden.» Positive Rückmeldungen zu gelungenen Frisuren erfüllen ihn mit Stolz.
Ali, 24-jährig, türkische Wurzeln, hat viele Stammkunden. Im Sommer steht ein wichtiger Termin auf seiner Agenda: Die Abschlussprüfung zum Eidgenössischen Berufsattest als Coiffeur. Seine Lehrmeisterin Feride (Name geändert) sagt:
Um für den Lehrabschluss gut gewappnet zu sein, brauche er aber noch mehr Übung – vor allem bei Frauenfrisuren. Will heissen: Ali muss «Models»organisieren, um sein Handwerk zu verfeinern.
Dass Ali gerade dabei ist, sich in der Berufswelt zu etablieren, ist nicht selbstverständlich. Kiffen, Gamen, keine Tagesstruktur – immer mehr junge Erwachsene brauchen einen Beistand, um ihr Leben zu bewältigen: Über dieses Phänomen berichtete CH Media im vergangenen Oktober. Bis vor kurzem trafen diese Verhaltensmuster ziemlich exakt auf Ali zu. Er hatte keinen Job, füllte die leeren Tage mit Joints rauchen, Computerspielen, Abhängen, lebte von der Sozialhilfe. Der Umgang mit Geld? Schwierig. Das gesellschaftliche Verhalten? Auch.
Dabei ist Ali, kurze schwarze Haare, gepflegter Kurzbart, ein freundlicher, herzlicher und selbstbewusster Mann. Und Hobbygärtner. Vor seiner Parterrewohnung pflanzt er Gemüse und Früchte, die Trauben gedeihen prächtig. Wie geriet er in das Fahrwasser, das direkt in eine scheinbar ausweglose Sackgasse mündet? Ali, aufgewachsen im Kanton Aargau, erzählt von seiner schwierigen Kindheit. In der Primarschule wurde er gemobbt, weil er stotterte; der Lehrer habe ihn ständig heruntergeputzt. Seine Mutter, eine Coiffeuse, leidet an einer psychischen Krankheit und war mit der Erziehung überfordert. Sein Vater arbeitete bei einem Industriebetrieb, leistete aber in pädagogischer Hinsicht wenig. Er trennte sich von seiner Frau und flüchtete vor 13 Jahren vor den schwierigen Umständen zurück in die Türkei.
Der kleine Ali erhielt mit acht Jahren eine Beiständin. Die nächsten neun Jahre verbrachte er in einem Internat im Kanton Zürich. Er sei kein einfaches Kind gewesen, ein anstrengender Junge, sagt Ali. Ihn übermannten Schuldgefühle: Bin ich der Grund dafür, dass sich meine Eltern trennten? Bin ich der Grund dafür, dass meine Mutter ihr Leben nicht zu meistern vermag? Als Kind konnte er die damaligen Vorgänge, die krankheitsbedingte Überforderung der Mutter, die erzieherische Abwesenheit des Vaters, nicht einordnen. Heute kann er die Situation, auch dank Gesprächen mit Verwandten, nachvollziehen. Vor kurzem flog Ali in die Türkei zu seinem Vater: Es war die erste Begegnung nach 13 Jahren. Seine Mutter, ebenfalls Coiffeuse, besucht er regelmässig, auch zum Fachsimpeln.
Sicher, im Heim kümmerten sich Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Lehrerinnen und Lehrer um Ali. Doch umgeben von anderen Kindern aus ähnlich schwierigen Verhältnissen, übernimmt er viel dissoziales Verhalten. Es fehlte an liebevollen Eltern, die ihm Grenzen setzten, als der Sohn auf Abwegen durchs Teenagerleben schlingert. An einer Familie, die Stabilität und emotionale Geborgenheit vermittelt. Kurzum: Alis Sozialisierung verlief suboptimal.
So suboptimal, dass er sich überfordert fühlte mit den Ämtchen, die er erledigen musste im neuen Heim, in das er mit 18 Jahren eintrat. Er störte sich am Handyverbot ab 22 Uhr, fühlte sich eingeengt, haderte mit sich und der Welt, war unzuverlässig, liess Termine sausen. Eine Kochlehre in der Stadt Zürich brach er ab. Er türmte aus dem Heim, befand sich während drei Monaten auf der «Flucht», lebte bei Freunden, dann eine neue Lösung auf Vorschlag der Heimleitung: Ali kehrt als Volljähriger zurück zu seiner Mutter. Dann dreht die Abwärtsspirale noch schneller. Keine Arbeit, kein soziales Umfeld, kaum Kollegen, keine Tagesstruktur, keine sinnvolle Aufgabe, ergo: Kiffen, Gamen, Chillen und etwas dealen. Ali spricht heute von «drei verlorenen Jahren».
Vielleicht schlüge Ali die Zeit immer noch kiffend, gamend und chillend tot, wenn er nicht Haare schnitte. Perspektive? Langzeitsozialhilfebezüger, vielleicht Dealer. Doch Ali hatte Glück. Zwei Sozialarbeiterinnen, Familienbegleiterin Carmela Tonto von der vernetzten Jugend- und Elternbildungsarbeit – jugendbewaehrungshilfe.ch und Lehrmeisterin Feride liessen es nicht zu, dass er als Sozialfall verwaltet wurde. Investierten in ihn, trauten ihm etwas zu, aktivierten seine Talente. Zwei starke Männer begleiten Ali auf seinem Weg: Sein Trainer und Brückenbauer Philipp Suter von der jugendbewaehrungshilfe.ch und Amon (Name geändert) aus Algerien, Ferides Ehemann.
Bevor Ali die zweijährige Lehre antrat, startete er mit einem Praktikum. Amon fackelte nicht lange. Schon am dritten Tag liess er Ali Haare schneiden. «Ali muss eine Aufgabe haben und dabei etwas lernen», sagt Suter. Er und Amon wissen genau, junge Menschen brauchen eine Aufgabe, dann machen sie weniger Dummheiten. Als gläubiger Muslim ist es für Amon ein Gebot der Wohltätigkeit, einem Menschen wie Ali die Möglichkeit zu bieten, in einem Beruf etwas zu leisten und zu lernen.
Suter ermutigt, vernetzt und erzieht Ali seit mehreren Jahren. Anders als Beistände, die sich gleichzeitig um Dutzende Jugendliche kümmern und für die einzelnen Personen monatlich ein oder zwei Stunden Zeit haben, können Suter und sein Team die Klientinnen und Klienten enger begleiten. Sie ermutigen, trösten, vernetzen und fördern. Vermitteln, wenn irgendwo Konflikte aufbrechen. Sind schnell präsent, wenn die Polizei vor der Kindertagesstätte aufkreuzt, bei der Ali gerade ein Praktikum absolviert, weil er Betreibungen am Hals hatte.
Dank engmaschiger Begleitung tastet sich Ali langsam an ein geregeltes Leben heran. Doch manchmal fällt er in alte Muster zurück. Wird unzuverlässig. Schwänzt die Berufsschule. Ist mit Arbeiten für dieselbe in Verzug. Plötzlich fehlt Geld in der Geschäftskasse oder es droht Gefängnis, weil er sich wegen mehrfachen Schwarzfahrens eine Busse einbrockt. Der Weg ins «normale»Leben ist steinig. Periodisch treten Krisen auf. Beim Gespräch mit CH Media vermittelten Feride und Ali das Bild, es sei jetzt fast alles gut. Kurz danach steht jedoch der Vorwurf im Raum, Ali habe sich eigenmächtig und voreilig Quarantäne verordnet.
Die Fronten verhärten sich, Alis Zukunft beim Betrieb steht wieder einmal auf der Kippe. Feride und Ali wenden sich mit Whatsapp und Telefon unabhängig voneinander an Suter, der jetzt wieder einmal als sozialer Feuerwehrmann gefragt ist und dafür sorgt, wieder eine Win-win-Situation zu gestalten – und dass Ali die Lehre fortführt. Etwas wirkt zurzeit auch: Fliegt Ali aus dem Betrieb, verliert er die IV-Kinderrente, die seine Mutter für ihn erhält, weil er noch in Ausbildung ist.
Suter kennt viele Jugendliche wie Ali. Vielen fehle es an einer sinnvollen Aufgabe, adäquater Geborgenheit und massvoller Kontrolle in einer guten Gemeinschaft, sagt Suter. Damit ein Mensch zurück auf die Spur finde, brauche er mindestens einen beziehungsstarken Menschen, jemanden, der an ihn glaube.
Suter ortet strukturelle Probleme im Umgang mit «schwierigen» Jugendlichen. Zum Beispiel, dass sie oft in Institutionen platziert werden, wo sie umgeben sind von lauter Menschen mit ähnlichen Problemen und deren schlechte Gewohnheiten übernehmen. Pro Jahr übernimmt sein Team zehn junge Erwachsene von Sozialdiensten. Diese waren zuvor jahrelang in Massnahmenzentren oder heimähnlichen Institutionen. Viele hätten dort gelernt zu kiffen, davonzulaufen, zu lügen oder sich zu verweigern. Suter sagt, Beistände und Schulsozialarbeiter hätten schlicht und einfach zu wenig Zeit, solche verwahrloste Jugendliche wie Ali klug ins Leben zu führen. Dabei benötigten viele dissoziale Jugendliche gute Vorbilder, viel Liebe, Nacherziehung und oft eine systemische Familienbegleitung. Das sei ein Knochenjob, der immer wieder unmittelbare Interventionen erfordere.
Suter sagt, Alis grösstes Problem sei der inexistente Vater gewesen, der sich finanziell, menschlich und sozial aus der Verantwortung gestohlen habe. Respektive: Niemand habe das vom Vater eingefordert. Für Suter ist klar: Wenn die Behörden erkennen, wie wichtig es ist, abwesende Väter ins Boot zu holen und klug einzubinden, könnte die öffentliche Hand Millionen an Steuergeldern für teure Platzierungen sparen – und Erwachsene wie Ali wären glücklicher und gemeinschaftsfähiger. Bevor die jugendbewaehrungshilfe.ch die Trainings und Kriseninterventionen übernommen hat, kostete Ali die öffentliche Hand schon mehr als eine Million Franken für Platzierungen.
Für Ali ist es ein grosser Schritt, seine Geschichte einer Zeitung zu erzählen. Er verfügt jetzt über eine sinnstiftende Tagesstruktur, die ein Team um ihn herum in Kleinarbeit aufgebaut hat. Er arbeitet an sich, damit es künftig seltener Kriseninterventionen braucht. Mit seiner Geschichte will er Jugendlichen Mut machen, die mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpfen. Aufzeigen, dass eine Wende zum Besseren möglich ist, wenn das Umfeld stimmt.
Wäre noch interessant zu wissen, wie lange dieses Praktikum dauerte. Es ist nämlich eher eine Unsitte oder sogar Ausbeutung Jugendliche ein Praktikum vor der Lehre machen zu lassen - vor allem, wenn es sich um eine EBA-Ausbildung handelt. Ein Gebot der Wohltätigkeit ist das bestimmt nicht.