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Sibylle Berg erfindet ihre Biografie, wie es ihr gefällt

Der Schweizer Buchpreis 2019 geht an Sibylle Berg für ihre düstere Gesellschaftsbetrachtung "GRM. Brainfuck." (Archivbild)
Nimmt es mit Auskünften zu ihrer Biografie nicht so ernst: Sibylle Berg. Bild: DPA-Zentralbild

Sibylle Berg erfindet ihre Biografie, wie es ihr gefällt

Viele Intellektuelle sind der Meinung, sie könnten frei über ihre Vita verfügen. Doch die Sache hat einen Haken.
24.06.2023, 20:4224.06.2023, 20:42
Julian Schütt / ch media
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Sibylle Bergs Bücher konfrontieren uns mit schlimmstem Kapitalismus, Demokratiezerfall, Zweiklassengesellschaft, rechtem Nationalismus, Überwachung, Machotum, Klimawandel oder manipulativer Technokratie. Doch all diese Übel schocken uns weniger als der jetzt von der NZZ enthüllte Befund, dass es die deutsch-schweizerische Autorin mit den Auskünften über ihr Leben offenbar nicht so ernst nimmt.

Zuerst denken wir zwar: Was soll das? Ist es nicht die natürlichste und banalste Eigenschaft einer Schriftstellerin, dass sie flunkert und die Lust am Fiktionalisieren eben auch vor der eigenen Biografie nicht Halt macht? Marguerite Duras hat sich eine marktgerecht verruchte Heiligenlegende zurechtgelegt. Ständig erfand sie ihr Leben neu, machte intimste, aber leider ungenaue oder falsche Geständnisse.

Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er für sein Leben hält

Max Frisch, den Sibylle Berg nach eigenen (aber vielleicht auch falschen) Angaben hasst, wagte gar die These, jeder Mensch erfinde sich eine Geschichte, die er irgendwann für sein Leben hält. Wer jemand wirklich sei, erfahre man kaum durch eine Rekonstruktion seines Lebens. Eher verrate sich das in den Erfindungen. Dahinter verbirgt sich eine wahre Erfahrung, die wir alle schon machten: Hören wir einer Person zu, wie sie ihre wildesten Geschichten, Fantasien und Träume auftischt, kennen wir sie nachher besser, als wenn sie uns nur möglichst korrekt ihre Lebensstationen aufzählt.

Warum verstört es uns trotzdem, wie unverfroren Sibylle Berg ihren eigenen Lebenslauf vernebelt und freimütig zugibt, sie habe «viel Quatsch erzählt, der heute bei Wikipedia steht». Im Umgang mit Journalisten habe sie gelernt, «zu faken und Lügen zu erzählen». Nicht einmal ihr Geburtsdatum 1962 oder 1968 steht sicher fest. Ist sie in der DDR aufgewachsen oder in Rumänien? Hat sich der Suizid der Mutter so zugetragen, wie von ihr und den Medien kolportiert? Hat sie ihren Ausreiseantrag tatsächlich an den Genossen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker persönlich adressiert? Und was genau passierte bei jenem schrecklichen Autounfall 1991 oder 1992, bei dem sie schwerste Verletzungen erlitt?

Wieso weigert sich die Autorin, ihre Lebensdaten überprüfen zu lassen?

Wo immer die NZZ bei ihrer Recherche in das Berg'sche Biografie-Soufflé hineinsticht, fällt es in sich zusammen. Es gibt kaum gesicherte Fakten, aber manches, was fast zu stimmig klingt, um wahr zu sein. Und wir fragen uns, wieso sich die Autorin dagegen sperrt, nur gesicherte Daten über sich zu verbreiten. Zweifellos ist sie eine vehemente Verteidigerin des Datenschutzes, aber das allein kann nicht der Grund sein.

Woran liegt es dann? Ist der linksexzentrischen Sibylle Berg die NZZ schlicht zu rechts? Wirkt die Überprüfung ihrer Biografie für die Autorin wie ein Rückfall in jene Zeit des Kalten Krieges, als die NZZ fast systematisch Intellektuelle, die sich in der DDR aufgehalten hatten, kritisch durchleuchtete und ideologisch musterte? Auch das genügt aber nicht als Grund, gleich ihren Anwalt einzuschalten, wenn ihr ein Journalist zu nahe tritt.

Die effektive Zumutung ist für Berg wohl eine andere: Der NZZ-Journalist Lucien Scherrer erdreistete sich, in ihrer Biografie herumzuschnüffeln, also in ihren persönlichen Weidegründen, in denen sie ganz allein grasen will und die sie offenkundig als ihr Privateigentum betrachtet.

Einst hiess es: «Mein Bauch gehört mir», jetzt: «Meine Biografie gehört mir»

Berg und mit ihr immer mehr Kolleginnen und Kollegen wollen sich bei der Verwaltung ihrer eigenen Lebensdaten nichts mehr vorschreiben lassen. Früher hiess es: «Mein Bauch gehört mir», wenn Frauen für ihre Rechte und Selbstbestimmung eintraten. Heute heisst es: «Meine Biografie gehört mir!» In der Gegenwartsliteratur liebt man die Reset-Taste, um die Welt und das eigene Leben nochmals ganz neu zu erzählen. Da soll sich gefälligst kein Fremdling einmischen, und schon gar nicht ein Journalist.

Bergs Anwalt wertet Fragen des NZZ-Journalisten zur Biografie seiner Mandantin bereits als «verstörenden Verstoss in die intimsten Bereiche eines Menschen» und droht mit juristischen Konsequenzen. Der Schutz der Privatsphäre wird höher gewichtet als kritische Recherchen über das Leben der Schriftstellerin. Wir sollen ungeprüft übernehmen, was Berg selbst über sich in die Welt setzt.

In einer Biografie steht nicht nur, was der dargestellten Person passt

Doch hier handelt es sich um eine simple Verwechslung von Biografie und Autobiografie. Letztere ist eine subjektive Ich-Beschreibung. Eine Biografie dagegen nähert sich einer Person von aussen. Das schreibende Subjekt ist nicht einfach identisch mit dem beschriebenen Objekt. In einer Biografie steht auch nicht nur, was der dargestellten Person passt.

Die in Zürich lebende Autorin Sibylle Berg wird für ihr Gesamtwerk mit dem Grand Prix Literatur 2020 ausgezeichnet.
Steht in der Kritik: Sibylle Berg. Bild: KEYSTONE

Vielleicht darum boomt heute besonders die Autobiografie. Sie ist näher bei der Influencer-Generation. Immer mehr Menschen halten reine Selbstdarstellungen irrigerweise für besonders authentisch. In dem Genre verschwimmen aber Faktisches und Imaginiertes oder Erträumtes - so kam der Begriff «Autofiktion» auf.

Sibylle Berg ist allerdings ein Sonderfall: Sie bockt nicht nur, wenn es um ihre Biografie geht. Sie lässt sich auch nicht zur autobiografischen oder autofiktionalen Fraktion zählen. Bei ihr reflektiert sich kein Ich. Da begegnet uns immer eine gehetzte Erzählerinstanz, die sich kurz vor dem Weltuntergang wähnt und deshalb unter Hochdruck dystopische Bulletins ausspeit und dazu die rettenden Rezepte für die Zukunft nachreicht.

Es irritiert, wenn eine Intellektuelle sich nicht für Geschichte interessiert

Für die eigene Nabelschau hat die Autorin ebenso wenig Zeit und Geduld wie für Geschichtliches. Das ist das Sibylle-Berg-Syndrom: Fast schon unzüchtig wirft sie sich der Zukunft an die Brust, während sie die «Vergangenheit nicht irrsinnig interessant» findet.

Gerade bei einer nur 20 Jahre nach der Nazidiktatur geborenen deutschen Intellektuellen irritiert dieses Desinteresse an der eigenen Geschichte, zumal sie in einer Zeit aufgewachsen ist, als man noch notorisch gewisse Kapitel der deutschen Vergangenheit verdrängte. Als ehemalige Studentin der Politikwissenschaften sollte sie erst recht wissen, dass man weder die Gegenwart noch die Zukunft ohne genaue Kenntnis der Vergangenheit verstehen kann.

Sibylle Berg ist Schweizerin, lebt in Zürich und ist eine der meistgelesenen deutschsprachigen Autorinnen.
Ihr Werk umfasst 21 Theaterstücke, 14 Romane und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Sie schreibt ...
Autorin Sibylle Berg. Bild: Joseph Strauch

Zumindest in ihrem Blog «Sibylle Berg regelt das» reagiert sie indirekt auf die Recherche zu ihrer Biografie und bemüht sogar die Geschichte. Etwas pikiert schreibt sie: «… welche überraschende Wendung können wir noch herbeischreiben? Haben wir der Familie auch ausreichend aufgelauert? Lass uns die seit dem 15. Jhdt. bekannte vollkommen richtige Trennung von Künstlerin und Werk neu verhandeln …»

Zwar geht es in dem Post eher um Rammstein und den Missbrauch der Frauen, aber Berg erinnert auch daran, wie notwendig es ist, ihre künstlerische Arbeit unabhängig von ihrem Verhalten als Person zu würdigen. Sie hat recht. Gerade die Schweizer Literaturgeschichte führt uns vor Augen, wie leicht man hierzulande von einem stubenmoralisch unkorrekten Werk immer wieder auf den Verfasser schloss und umgekehrt.

Über Kurzschlüsse dieser Art kann sich Sibylle Berg aber persönlich nicht beklagen. Sie gilt als die bekannteste in der Schweiz lebende Theater- und Romanautorin. Für ihre Werke erhielt sie die wichtigsten Auszeichnungen: den Schweizer Buchpreis und den Grand Prix Literatur. Sie ist ausserdem eine international gefragte Kolumnistin, die mit moralischem Furor das gesellschaftspolitische Zeitgeschehen beurteilt.

Gerade weil sie in ihren Romanen, Stücken, Kolumnen und Tweets über reale Missstände schreibt, würde sie noch an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie sich nicht nur für die Trennung von Künstlerin und Werk, sondern ebenso beherzt für die Unterscheidung von gesicherten Fakten und Fake News einsetzen würde. Auch was ihre eigene Biografie betrifft. (aargauerzeitung.ch)

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48 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Anita84zh
24.06.2023 22:14registriert Januar 2023
Was sie in Ihrer Biografie schreibt, ist mir eigentlich egal. Ich habe zwei Ihrer Bücher zu lesen begonnen und musste sie wieder weglegen. Meiner Meinung nach ist sie einfach keine gute Schriftstellerin. Aber vielleicht liegt's auch daran, dass ich Max Frisch so mag.
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Macca_the_Alpacca
24.06.2023 21:30registriert Oktober 2021
Sibylle Berg erfindet ihre Biografie, wie es ihr gefällt.... gut ich auch.

Ich bin Testpilot, Astronaut und Professor für Hirnchirurgie. Daneben halte ich den 100, Weltrekord, bin ein gefierter Ster Pianist und habe den Quantencomputer erfunden.

In meiner Freizeit rette ich die Wälder von Brasilen und Afrika.

Tja über meine Vita verfüge nur ich, Punkt.
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Gefühlsschraube
25.06.2023 10:26registriert Oktober 2016
Für mich eine der meist überschätzten Personen.
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48
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