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Interview: Sibylle Berg findet keine neue Wohnung in Zürich

Die in Zürich lebende Autorin Sibylle Berg wird für ihr Gesamtwerk mit dem Grand Prix Literatur 2020 ausgezeichnet.
Sibylle Berg sucht seit drei Jahren sporadisch und seit einem Jahr intensiv nach einer neuen Wohnung in Zürich – ohne Erfolg.Bild: KEYSTONE
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Schweizer Autorin hat sich in Zürich auf 62 Wohnungen beworben – und keine bekommen

Sibylle Berg findet keine neue Wohnung in Zürich. Auf Twitter macht sie das zum Thema. Vielleicht ziehe sie doch noch weg, zum Beispiel wenn eine Buchübersetzung ihr einen Hollywood-Deal einbringe, sagt sie im Interview ironisch.
11.01.2023, 08:5712.01.2023, 19:24
Elena Lynch
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Sibylle Berg ist Autorin und Dramatikerin, Schweizerin und lebt seit 1996 in Zürich. Ihr Werk umfasst 29 Theaterstücke, 16 Romane und wurde in 34 Sprachen übersetzt. 2019 erhielt sie für ihr Buch «GRM. Brainfuck» den Schweizer Buchpreis. Ein Jahr später für ihr Gesamtwerk den Schweizer Grand Prix Literatur.

Frau Berg, Sie haben sich vergangenes Jahr auf 62 Wohnungen beworben und keine bekommen. Warum hat es nicht geklappt?
Sibylle Berg: Beworben ist falsch, bei den meisten habe ich keinen Besichtigungstermin bekommen. Einige waren zu winzig, andere bekam ich nicht. Was die Wohnungssuche betrifft, lebe ich das Ex-Mittelstand-Elend, das ich mit vielen teile: Für eine Stadtwohnung habe ich zu viel Geld, für eine auf dem Markt zu wenig. Aber vielleicht schreckt es auch ab, dass ich Schriftstellerin bin.

Warum sollte es?
Vermutete Brotlosigkeit. Oder vielleicht haben die Entscheiderinnen und Entscheider schlechte Erinnerungen an den Deutschunterricht. Ich glaube, meistens ist es Zufall, und denen in der Verwaltung fehlt die Zeit, die Bewerbungen zu studieren. Das macht die KI: «Ah, Google Trainee, kinderlos, keine Haustiere – nehmen wir.»

Haben Sie gehofft, als Bestsellerautorin bessere Chancen zu haben? Sind Sie verwundert, besorgt, enttäuscht, dass «selbst Sie» keine Wohnung in Zürich bekommen?
Das wäre mir nie eingefallen, denn so funktioniert die Schweiz zum Glück nicht. Schweizerinnen und Schweizer lassen sich nicht von so etwas Bescheuertem wie flüchtiger Bekanntheit beeindrucken. Vielleicht ist Bekanntheit sogar schlecht, weil Vermieterinnen und Vermieter dann denken: «Ah, Sibylle Berg, das ist die Dystopische, die isst dann Fledermäuse in der Wohnung.»

Was bedeutet das für minderbemittelte Menschen?
Unter der Armutsgrenze zu leben, ist nochmals etwas anders. Ich kenne vor allem die Realität in meinem Umfeld: Viele freiberufliche Künstlerinnen und Künstler haben die Stadt geräumt. Und sind wir ehrlich – so sieht es auf den Strassen jetzt auch aus.

Inwiefern?
Zürich gleicht immer mehr einem Bankschalter, in dem aus Versehen noch ein paar Natives hausen.

Und Sie? Geben Sie jetzt auch auf?
Nein, noch nicht. «Handeln nach Lage» ist der Lieblingsspruch meiner besten Freundin Sissi Zoebeli. Es kommt immer anders, als man denkt. Vielleicht ziehe ich ins Hotel, wie Udo Lindenberg, natürlich gesponsert vom Hotel. Ich latsche dann in so einer Suite herum, schreibe für den Nobelpreis und esse Fledermäuse. Oder ich werde reich, weil – keine Ahnung – meine amerikanische Buchübersetzung mir einen Hollywood-Deal einbringt, und dann ziehe ich nach – lassen Sie mich mal überlegen – Tampa in Florida. Da war ich noch nie.

Noch sind Sie aber in der Schweiz: Wie wohnen Sie jetzt?
Ich wohne seit siebzehn Jahren in derselben netten Altbauwohnung in der Innenstadt von Zürich.

Alleine?
Nein.

Wenn es da so nett ist, warum wollen Sie weg?
Vor der Pandemie hatte ich die Idee, von drei Zimmern auf zwei Zimmer zu verkleinern oder auf eine gut geschnittene Einzimmerwohnung.

Weil Sie sich die drei Zimmer nicht mehr leisten können?
Gewissermassen. Ich möchte meine Fixkosten reduzieren, weil nach den Fixkosten immer weniger zum Restleben bleibt.

Auf Twitter haben Sie die Welt wissen lassen, dass Sie in Zürich nach einer Wohnung für 1200 Franken suchen. Wie erfolgreich war dieser öffentliche Aufruf?
Es gab viel Anteilnahme, reizende Angebote aus Basel und anderen Städten, freundliche WG-Zimmer-Offerten. Es war lieb.

Aber gebracht hat es nichts?
Nope.

Wie lange suchen Sie schon?
Sporadisch suche ich seit ungefähr drei Jahren, intensiver seit einem Jahr.

Die letzten drei Jahre waren eine verunsichernde Zeit.
Ich glaube fast alle, die sich im Mittelstandssegment bewegen, haben gemerkt, wie fragil ihr angenehmes Leben – das muss man immer dazu sagen – ist. Von einem Tag auf den anderen gab es pandemiebedingte Berufsverbote und Entlassungen. Man merkte, was lebensnotwendig ist: Streaming. Kleiner Scherz.

Und wenn Sie künftig kein neues Heim in Zürich finden?
Es klingt einfach: «Hey, ich ziehe nach Olten, Schaffhausen oder Wilderswil.» Aber was wenig gesagt wird, ist, dass eine Wohnung ein anderes Wort für Heimat ist. Deine Wände, deine Burg, dein Viertel, deine Leute, deine Stadt, von der du weisst, wie sie funktioniert, und in der du die Todesanzeigen liest. Das Verlassen des Ortes, an dem man lebt, bedeutet auch immer eine Entsolidarisierung. Die Menschen werden entwurzelt, engagieren sich weniger.

Was für eine Wohnung wünschen Sie sich denn?
Da wäre der Traum: ein geräumiges Badewannenzimmer im obersten Stock in der Altstadt mit einer Glasfront – davor eine Terrasse.

Und ernsthaft?
Meine hundert Suchabos beschreiben es ganz gut: eine kleine nette Wohnung, die mit Nebenkosten maximal 1500 Franken kostet. Entweder ein Zimmer, das gross genug ist, dass sich zwei Erwachsene nicht dauernd auf den Füssen stehen, oder zwei Zimmer. Eine Badewanne, weil ich duschen hasse. An einen Balkon wage ich schon nicht mehr zu denken. Das Segment, in dem ich suche, ist das mit den wenigsten Angeboten und den meisten Interessenten. Wir haben auch schon 18 Quadratmeter für 1200 Franken angesehen, aber das war wirklich zu klein.

Und was ist mit Genossenschaften und Sozialbauten? Nur für Nobel-Ökos oder der heilige Gral?
Genossenschaften sind eine gute Idee, wenn man drin ist. Stadtwohnungen ebenso. Es hat einfach nur viel zu wenig, und ich habe es versäumt, mich vor 25 Jahren, als ich in die Stadt kam, in einer Genossenschaft anzumelden. Vielleicht wäre ich sonst jetzt an der Reihe.

Es kommt immer öfter vor, dass sich Mieterinnen und Mieter mit einem Lied oder Kurzfilm bewerben. 2017 gaben bei einer Umfrage von comparis.ch 18 Prozent der befragten Personen an, so eine extravagante Bewerbung zu erwägen. Haben Sie schon mal einen literarischen Text an die Verwaltung geschickt?
Einen literarischen Text habe ich nicht versucht, da meine Texte oft ein wenig – nun, sag schon – brutal sind. Das würde wohl auch nicht helfen. Aber bei der letzten Bewerbung vor vier Tagen habe ich ein verzweifeltes Mail an die Verwaltung geschrieben. Mit keinem Erfolg. Das war mir schon peinlich genug. Ich denke dann immer: Ich habe ja noch eine Wohnung und keine Kinder oder einen Pflegefall. Ich gehöre zu einer grossen, globalen Gruppe von Leuten, ohne Codingfähigkeiten aus alten 1.0 Berufen, die gerade überflüssig zu werden scheinen. Das ist doch ein interessantes Experiment. Werden wir Krach machen oder aufgeben?

Sind Sie bei einer Besichtigung schon Schlange gestanden?
In den Schlangen stehe ich oft. Die letzte reichte vom Erdgeschoss bis zum 4. Stock. Es ist immer nett da. Niemand glaubt, dass er oder sie Glück hat, es herrscht eine Art ironisch distanzierter Untergangsfreude in der Schicksalsgemeinschaft der Hoffnungslosen.

Laut einer Recherche von «Reflekt» wird der Wohnungsmarkt in Zürich vom Versicherungskonzern Swiss Life dominiert. Ihm gehört mit 5000 Einheiten jede 50. Wohnung in Zürich. Auch Sie haben sich schon eine Wohnung von Swiss Life angeschaut. Dahinter sind die Grossbanken Credit Suisse und UBS sowie der Versicherungskonzern AXA.
Respekt, Swiss Life. So investiert man gut. Für nicht juristische Personen heisst eine Wohnung kaufen, sich verschulden. Denn die Immobilie gehört der Bank, die zwar Kreditsummen für Darlehen erschafft, aber nicht das Geld für den Zins.

So bleibt eine ständige Knappheit, die sich mitunter auch auf dem Wohnungsmarkt manifestiert.
Die Knappheit schafft den Wettbewerb, in dem wir alle gegen alle täglich rackern, uns perfektionieren, uns anstrengen und doch selten gewinnen. Die künstliche Verknappung von Wohnraum – in den Segmenten ab sechstausend Franken gibt es ja genug – lässt den Stress der Einzelnen steigen. Das zeigt sich in der Zunahme psychischer Erkrankungen.

Eine Studie der UBS ergab im Herbst: Zürich zählt hinter Toronto und Frankfurt zu den drei Städten mit dem grössten Risiko einer Immobilienblase weltweit. Wie schätzen Sie, als Mieterin, den Immobilienmarkt in Zürich ein?
So wie in den meisten Grossstädten Europas. Wohnungsnot passiert, wenn man mit den Grundbedürfnissen des Menschen spekuliert. Der Immobilienmarkt ist nicht von Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern vom immensen Zuwachs von Kapital bei wenigen Kräften. Diese wollen ihre Gewinne in etwas Reales wie Immobilien investieren, weil sie wissen, dass Finanzprodukte eine unsichere Sache sind. Dass Wohnraum nach den Parametern des Wachstums immer profitabler werden muss, um unbegrenzten Wachstum zu gewährleisten, während die realen Löhne stagnieren, schafft eine gelinde Panik.

Bei wem?
Die Menschen haben weniger Geld übrig und kaufen, in Konsequenz, weniger Zeug, was in Ordnung wäre, würde es nicht kleine Läden und Restaurants gefährden. Es ist katastrophal, wenn Menschen immer mehr, oft in zwei bis drei Jobs, arbeiten müssen, um die Mieten, die Versicherungen und die Grundbedürfnisse zahlen zu können. Es ist nicht so, dass den hart Arbeitenden die Welt gehört. Sonst stünden all die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gesundheitswesens in der Forbes Liste. Die meisten arbeiten bis an die Grenzen der Selbstausbeutung und ihnen gehört – gar nichts. Und jetzt macht auch noch unsere Nationalbank Verluste von 132 Milliarden Franken, und die Aktionärinnen und Aktionäre werden sich mit uns um die Kleinstwohnungen streiten, weil sie reduzieren müssen.

Also noch mehr Konkurrenz. Dabei ist das Verhältnis von Kaufpreisen und Mieten in Zürich längst aus dem Gleichgewicht geraten. Seit Beginn der Pandemie sind die Preise um 20 Prozent gestiegen.
Die Wohnungsnot in der Stadt ist nicht neu und eigentlich verwunderlich: Wir haben ja seit Langem eine eher sozial linke Regierung. Seit Jahren werden Menschen aus ihren Wohnungen komplimentiert. Die Zauberworte sind «Eigennutzung» oder «Totalsanierung». Seit Jahren sind Menschen am Suchen, nicht Finden, Aufgeben. Ein Dauerthema bei allen, die ich kenne. In der Zeit, in der wir über Wohnungen reden, hätten wir im Alleingang den Kurznachrichtendienst Twitter übernehmen und das Satellitennetzwerk Starlink abschiessen können.

Was braucht es, Ihrer Meinung nach, damit sich das Problem endlich entschärft?
Das Recht auf Wohnen ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 25 AEMR) enthalten. Da stehen schöne Utopien drin. Wären diese in jeder Verfassung verankert, würde sich viel ändern. Als gütige Herrscherin würde ich die Spekulation mit den menschlichen Grundbedürfnissen wie Wohnen, Nahrung, Wasser, Gesundheitsfürsorge, Transport stoppen. Stellen Sie sich vor, wenn man sich keine Sorge um existenzielle Bedürfnisse machen müsste. Wie viel mehr Kreativität und Lebensqualität hiesse das für viele!

Das Leben wäre weniger ein Wettbewerb.
Und Menschen fielen nicht aus der Gesellschaft, wenn ihnen gekündigt wird, sie krank werden, einen Unfall haben. Wenn die Mehrheit der Nicht-Millionäre mehr Zeit hätte, um miteinander zu sein und zu reden, um Hobbys nachzugehen, die sie glücklich machen, um ihr Quartier aufzuwerten. Das wäre doch was! Klingt utopisch, aber Sie haben ja gefragt …

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445 Kommentare
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insert_brain_here
11.01.2023 09:19registriert Oktober 2019
Sie hat eine dreizimmer Altbauwohnung in der Innenstadt? Einfach ein Inserat machen für einen Wohnungstausch, es finden sich bestimmt ganz viele die ihre kleinere Stadtwohnung gegen eine grössere tauschen wollen.
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Chalbsbratwurst
11.01.2023 09:12registriert Juli 2020
Für 1200.- ist es sogar in der Aglo schwer eine Wohnung zu finden. Wenn man zusätzlich nicht mal ein geregeltes Einkommen nachweisen kann wird es natürlich noch schwiriger.

Viel Glück bei der Suche!
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Chill Dude
11.01.2023 09:10registriert März 2020
Sie ist als Schriftstellerin nicht ortsgebunden, also wozu in einer Stadt wohnen?
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