Der Numerus clausus ist ein Massengrab für Hoffnungen und Träume. Rund 4000 junge Menschen haben sich laut dem Fachportal «Medinside» dieses Jahr in der Schweiz zur Prüfung angemeldet. Zum Medizinstudium zugelassen wurden nur 1145. Fast drei Viertel scheiterten. Wohlgemerkt: allesamt mit einer Matur im Sack.
Das Jahr 2024 ist keine Ausnahme. Seit Jahren fallen rund zwei Drittel durch die Prüfung. An den Unis in Genf, Lausanne und Neuenburg kann zwar ohne Vorprüfung ins Medizinstudium gestartet werden, der Schnitt erfolgt nach dem ersten Jahr. Doch auch dort ist nicht allein die Leistung für die Fortsetzung des Studiums relevant, sondern die Zahl der Studien- und Praktikumsplätze. Es ist ein Numerus clausus mit Vorlauf.
Derweil herrscht in der Schweiz Ärztemangel. Rund 40 Prozent der in der Schweiz praktizierenden Medizinerinnen und Mediziner stammen aus dem Ausland. Die zuständige Behörde des Bundes hat letztes Jahr ausländische Diplome von 3364 Personen anerkannt, im Jahr 2022 waren es 3053 Diplome – die Zahl steigt kontinuierlich. Selber bildet die Schweiz pro Jahr knapp 1200 Ärztinnen und Ärzte aus.
In der Politik ist das Problem längst erkannt. Doch neue Ausbildungsplätze an Unis und in Spitälern sind teuer. Bund und Kantone schieben sich die Verantwortung zu, schon seit über einem Jahrzehnt. Nur in Minischrittchen werden neue Plätze geschaffen – weit unter dem Bedarf.
In dieser Situation helfen sich immer mehr junge Leute aus der Schweiz selber: Sie wandern aus und verwirklichen ihren Traum an einer Universität im EU-Raum. Die Personenfreizügigkeit macht es möglich – und Studienangebote in Englisch, Französisch und Deutsch an Unis in vielen östlichen Ländern der EU. Ohne Numerus clausus.
Die Nachfrage muss gross sein. Im Internet bieten Firmen Beratungen im Hinblick auf ein Medizinstudium an, «ohne Noten-Numerus-clausus und ohne Wartezeit», wie etwa die deutsche Firma MediStart verspricht. «Studieren Sie in deutscher oder englischer Sprache.» Auf ihrer Website wendet sich die Firma an Interessierte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sie führt eine Liste mit Universitäten von Bulgarien bis Lettland. Vergleichbare Angebote finden sich auf französischen Websites.
Zu einem Hotspot hat sich die Stadt Cluj-Napoca in Rumänien entwickelt. Die Universität «Iuliu Hațieganu» bietet pro Jahr je 200 Studienplätze für Medizin in Englisch und Französisch an. Viele davon werden von Studierenden aus der Schweiz besetzt. Auf Anfrage teilt die Universität mit: «Für die Zulassung 2024-2025 haben sich 62 Schweizer beworben, 30 wurden zugelassen.» Davon haben 24 junge Leute das Studium in diesen Wochen effektiv aufgenommen. Sie gesellen sich zu den bereits anwesenden 98 Schweizer Studierenden in höheren Semestern.
Allein an der Universität Cluj-Napoca studieren also 122 Schweizerinnen und Schweizer Medizin. Die Tendenz ist seit Jahren steigend. Als die Zeitung «20 Minuten» im Jahr 2018 erstmals über Schweizer Studierende in Cluj-Napoca berichtete, waren 49 Landsleute eingeschrieben. In einer Reportage berichtete das Fernsehen RTS letztes Jahr von 111 Schweizern an der Uni «Iuliu Hațieganu».
Auch an anderen Universitäten in Osteuropa steigt die Zahl der Schweizer Medizinstudierenden. Etwa an der Uni Semmelweis in Ungarn. Dort sind derzeit 21 Schweizer im deutschsprachigen Lehrgang eingeschrieben. In den letzten Jahren waren es jeweils 10 bis 15, teilt die Pressestelle mit. Es ist eine zufällige Anfrage, bei einer von über einem Dutzend Hochschulen, die Studiengänge in Deutsch, Englisch und Französisch anbieten.
Offizielle Zahlen zu den Schweizer Medizinstudierenden im Ausland gibt es nicht. Das Bundesamt für Gesundheit teilt lediglich mit, 2023 seien rund 100 Grunddiplome anerkannt worden, die in einem EU-Mitgliedstaat von Studierenden mit Schweizer Staatsangehörigkeit erworben worden waren. In den Vorjahren bewegte sich die Zahl solcher Anerkennungen zwischen 56 und 90. Die Zahlen dürften in den kommenden Jahren weiter steigen.
Ein Teil der ausgewanderten Studentinnen und Studenten hat sich in der «Global Swiss Medical Student Association» organisiert. Über ein Dutzend von ihnen haben sich an einer Umfrage dieser Zeitung zum Thema beteiligt. Ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen.
Mehrere haben die Schweiz verlassen, weil sie am Numerus clausus scheiterten oder nach dem ersten Jahr ausgeschieden sind. «Mir fehlten zwei Punkte in einem Modul, das andere Modul habe ich bestanden», stellt jemand bitter fest, «Rumänien war darum meine einzige Option, Arzt zu werden». Andere haben sich offenbar schon im Voraus für diesen Weg entschieden, um Ärztin werden zu können, «ohne zwei oder sogar drei Jahre meines Lebens an eine reine Selektion zu verschwenden». Und eine der befragten Personen ging nach Rumänien, um dem Druck des Ausscheidungsverfahrens im ersten Jahr zu entgehen: «Es zählt nicht eine blöde Rangliste, sondern deine Leistung.»
Allerdings sind die Kosten hoch. In Cluj-Napoca werden pro Jahr 8500 Euro fällig, wobei ein Teil davon bei besonders guten Leistungen als Stipendium zurückerstattet wird, wie eine Sprecherin mitteilt. Die Universität Semmelweis ist teurer: Hier kostet das Semester 8700 Euro. An den Schweizer Universitäten bewegen sich die Semestergebühren zwischen 600 und 1100 Franken.
Kann man sich den Abschluss in Medizin also quasi kaufen? Die Anforderungen an der Universität «Iuliu Hațieganu» seien streng, lässt deren Pressestelle wissen: «Das Medizinstudium ist schwierig und stellt hohe Ansprüche an die Arbeits- und Organisationsfähigkeiten, die Vorbereitungsbemühungen und den Fleiss der Studierenden.» Zudem ist die Nachfrage grösser als das Angebot: Auch hier können nicht einfach alle Medizin studieren, die wollen.
Die Studierenden selbst sind mit ihrer Ausbildung zufrieden: «Das Studium ist vom ersten Jahr an sehr praxisorientiert, ab dem dritten Jahr arbeiten wir regelmässig mit den Patienten.» Im Vergleich zur Schweiz werde weniger in die Theorie investiert, «aber wir werden sehr gut auf unseren Beruf vorbereitet». Diese Selbsteinschätzung deckt sich laut dem Walliser Mitte-Nationalrat Benjamin Roduit mit den Erfahrungen von Ärzten in der Schweiz: «Mir haben Hausärzte erzählt, dass junge Assistenzärztinnen, die in Rumänien studierten, gleichwertige Leistungen erbringen, wie Abgänger von Schweizer Unis, gerade was die Arbeit mit den Patienten betrifft.»
Roduit ist Präsident der parlamentarischen Freundschaftsgruppe mit Rumänien. Auf einer Reise nach Bukarest hat er sich diesen Frühsommer eingehend mit der Frage der Schweizer Medizinstudenten befasst. Er stellt fest: «Die Schweizerinnen und Schweizer werden in Rumänien mit offenen Armen empfangen.» Nicht nur, weil sie sehr hohe Studiengebühren zahlen, sondern weil sie nach ihrer Rückkehr in die Schweiz gewissermassen als Botschafter für das rumänische Ausbildungswesen dienen.
Die Sorge mancher Studenten, dass sie nach ihrer Rückkehr Defizite kompensieren müssten oder an der Weiterbildung zur Fachärztin scheitern, scheint insofern unbegründet. Darauf lässt auch die Erfahrung eines Assistenzarztes schliessen, der diesen Schritt schon vollzogen hat: «Die Integration erfolgte schnell und im Alltag gibt es keinen Unterschied zwischen mir und den Kollegen, die in der Schweiz studierten.»
Die Schweiz anerkennt Diplome aus EU-Staaten gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen mit der EU. Unter den 40 Prozent ausländischen Medizinerinnen und Mediziner, die mithelfen, den Betrieb in Schweizer Spitälern aufrechtzuerhalten, stammen denn auch viele aus östlichen EU-Staaten. Offenbar genügen diese Ausbildungen den Schweizer Ansprüchen.
Dennoch steht auf politischer Ebene ein neuer Anlauf bevor, mehr Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz auszubilden. «Die Abhängigkeit vom Ausland ist problematisch», sagt Nationalrat Roduit. Und FDP-Präsident Thierry Burkart forderte jüngst in der NZZ, den Numerus clausus abzuschaffen. Er wird bald Gelegenheit haben, den Worten Taten folgen zu lassen. Am Montag steht im Ständerat ein Vorstoss Roduits zur Debatte: «Numerus clausus. Schluss mit dem Ausschluss von Medizinstudierenden aufgrund anderer Kriterien als Kompetenzen und Qualität», so der Titel.
Roduit verlangt, die Zulassung zum Medizinstudium solle «hauptsächlich auf Kompetenz- und Qualitätskriterien beruhen». Bund und Kantone müssten «für ein besseres Angebot an Studienplätzen und klinischen Praktika sorgen». Das deckt sich mit einer Petition der Schweizer Haus- und Kinderärzte, die vor kurzem mit 53'000 Unterschriften zuhanden Bundesrat und Parlament im Bundeshaus eingereicht wurde. Sie verlangt unter anderem eine Aufstockung auf 1800 Studienplätze und 200 Millionen zusätzlich für ein «Impulsprogramm Hausarztmedizin».
Bei den Schweizer Medizinstudierenden im Ausland kommt das gut an. Vom Numerus clausus halten sie wenig: «Er hat keinen Bezug zu den Themen, die später untersucht werden», schreibt jemand in der Umfrage. Eine andere Person stellt fest: «Der NC bevorteilt Menschen mit gutem Gedächtnis mehr als diejenigen, die sich wirklich für die Medizin begeistern.» Und selbst jene, die eine Vorauswahl für sinnvoll halten, tun das nicht vorbehaltlos: «Ein NC ist notwendig, aber in einer ausgefeilteren Form.» Am Montag zeigt sich im Ständerat, ob sie gehört werden. (aargauerzeitung.ch)
Beschämend!
Es gäbe wieder mehr Hausärzte und weniger Ärzte aus dem Ausland.
Aber die Situation wie sie ist, spielt den Bürgerlichen in die Hände. Das Volch nervt sich über ein marodes Gesundheitssystem, über Ärzte die sie nicht verstehen und über zu viele Ausländer. Währenddessen man sich und den oberen 10´000 easy Steuergeschenke machen kann.