«In der Nacht auf den 1. Januar 2022 erhielten wir einen Anruf von Rettungssanitätern», erinnert sich der Medizinstudent Octavio Gómez. «Zwei Männer wurden schwer verletzt unter einer Brücke gefunden, jemand hatte sie wohl verprügelt.» Die Vermutung, dass sie auf irgendeine Weise mit Drogenkartellen verwickelt waren, hatte für einen der beiden Männer tödliche Folgen.
Zum Zeitpunkt des Vorfalls absolvierte Gómez seit knapp fünf Monaten seinen obligatorischen Sozialdienst im abgelegenen, mexikanischen Städtchen Mulegé, knapp 1000 Kilometer südlich von seiner Heimatstadt Tijuana.
«Aufgrund der Schwere der Verletzung, hätte der Patient in das nächst grössere Spital gefahren werden müssen», sagt Gómez zu CH Media. Das liegt rund 40 Minuten nördlich von Mulegé in Santa Rosalía. Das Problem: «Weder die Sanitäter, noch die Polizei wollten die Männer fahren, aus Angst auf dem Weg überfallen zu werden», so der 25-Jährige. Nach fast zweistündigem Hin und Her habe er die Familie des Patienten angerufen und ihnen die Situation erklärt. Ein Familienmitglied entschloss sich schliesslich dazu, den Mann selber zu fahren. «Als wir ihn im Rollstuhl von der Klinik zum Auto brachten, ist er gestorben. Das war hart», erinnert sich Gómez.
Solche Vorfälle seien aber keine Seltenheit – im Gegenteil. «Ich bin noch einer der Glücklichen», sagt Gómez. Er sei während seines Dienstes in einer vergleichbar ruhigen Gegend und habe in der Klinik erfahrenere Ärzte, die er im Zweifelsfall um Rat bitten kann. Der Sozialdienst ist für Medizinstudentinnen und -studenten in Mexiko seit 1936 obligatorisch. Die Universität organisiert dabei die Zuteilung. Die Klassenbesten können dabei Aussuchen, in welche Region sie gehen wollen. Der Rest wird oft in Gegenden geschickt, in denen es zum Teil kein Telefonsignal gibt. Oft sind sie die einzigen Ärzte in der Ortschaft.
Das Problem dabei: Die Einheimischen dieser Regionen neigen Gómez zufolge dazu, die Studierenden als voll ausgebildete Ärzte zu betrachten. Immer wieder erfahren die Neuankömmlinge deshalb die Wut der Gemeinschaft auf sich gerichtet, wenn sie nicht in der Lage sind, eine Person zu retten.
Alfredo Cortés, der seinen Sozialdienst im Jahr 2020 absolvierte, schilderte gegenüber der LA Times einen Vorfall, bei dem ihm während des Sozialdienstes eine Waffe an den Kopf gehalten wurde, als er eine Person mit einer Wunde im Bauch behandeln musste.
In derselben Interview-Reihe beschrieb eine weitere Studentin, wie sie aus ihrer Klinik und der Ortschaft flüchten musste, weil sie den Verwandten eines Drogenhändlers nicht bevorzugt behandelte. Als der Patient verstarb, wies sie die Krankenschwester an, nicht zurückzukommen.
Vor knapp zwei Wochen endete der Sozialdienst für den 25-Jährigen Eric Andrade Ramírez in den Bergen des Bundesstaates Durango tödlich, nachdem stark alkoholisierte, bewaffnete Männer die Klinik betraten.
Ein Jahr zuvor wurde Luis Fernando Montes de Oca (23) überfallen, als er einen Patienten im Krankenwagen begleitete. Seinem Vater hinterliess er kurz vor seinem Tod eine Sprachnachricht, in der er sagte: «Hier ist ein Lastwagen, sicherlich wollen sie uns entführen oder so». Er und der Krankenwagenfahrer wurden auf der Strasse neben dem verlassenen Fahrzeug entdeckt – sie wurden erschossen.
Die zwei letzten Morde haben im Land eine Protestwelle unter Medizinstudentinnen und -studenten ausgelöst. Sie sprachen sich für ein Ende des Sozialdienstes aus. «Die Leute haben langsam genug», sagt Gómez. Mit der zunehmenden Präsenz von Drogenkartellen und anderen kriminellen Gruppen, ist der Sozialdienst für die angehenden Ärzte deutlich gefährlicher geworden.
Die Haltung der Regierung, der Dienst in solch ruralen Gebieten sei eine Art Dank an die Bevölkerung für die Ausbildung, kann Gómez nicht nachvollziehen. «Wir sind niemandem etwas schuldig, schon gar nicht unser Leben.»
Anderer Meinung ist sein Vater. Octavio Gómez Senior ist seit 30 Jahren Arzt und hat in den 90er-Jahren denselben Dienst absolviert. «Auch die abgelegenen Regionen brauchen Ärzte», findet er. In Mexiko kommen auf 10'000 Einwohner jeweils 24 Ärzte. In der Schweiz sind es knapp 44.
Aber auch er findet eine Überarbeitung des Zuteilungsprozesses sinnvoll, denn: «Leider hat die Kriminalität, vor allem in manchen Regionen des Landes, stark zugenommen», sagt Gómez Senior. Er selber schliesst seine Praxis in einem abgelegenen Teil seiner Heimatstadt Tijuana seit einiger Zeit täglich um 14 Uhr. «Gerade während Corona haben die Überfälle auf Ärzte und Praxen stark zugenommen.» Ein Grund zur Aufregung sei die erzwungene Umstellung aber nicht: «Klar müsste man die Situation verbessern, aber im Moment ist das unsere Realität. Da kann man nichts machen.»
Ein Gedanke, mit dem sich sein Sohn nicht anfreunden kann. «Es ist frustrierend», findet er. Ein Lichtblick: Einige Universitäten haben die zunehmenden Gefahren des Sozialdienstes anerkannt. Einzelne Hochschulen haben sich gar dafür ausgesprochen, den Sozialdienst ganz abzuschaffen.
Octavio Gómez hat, trotz einiger Zwischenfälle, in seinem Sozialdienst aber auch immer wieder schöne Momente gehabt: «Immer, wenn Patientinnen und Patienten unseren Aufwand anerkennen. Sie sind so dankbar. Dann weiss ich wieder, wieso ich mich für diesen Beruf entschieden habe.» (aargauerzeitung.ch)
30‘000+
Muss man sich mal vorstellen. 🥶
PS: Hey Brass Lorraine, DAS sind Probleme.
Das Problem sind die Drogen, die Drogenbanden, die Gewaltbereitschaft, mangelnder Respekt und Aggression.
Die Studenten müssen besser geschützt werden und die Ursache des Problems angegangen werden.