Es ist noch stockdunkel, als ein gambischer Schlepper am 5. Dezember 2022 zu einer Fahrt mit Ziel Basel aufbricht. Mitglieder einer Schlepperbande haben 23 Migranten aus Afghanistan, Syrien, Indien und Bangladesch nahe an die Grenze zur Schweiz gebracht. Von dort werden sie die nächsten Stunden stehend und zusammengepfercht auf 5.4 Quadratmetern Ladefläche eines Lieferwagens verbringen. Fenster? Fehlanzeige. Frischluftzufuhr? Keine Spur.
Der schwindende Sauerstoffgehalt setzt den Migranten immer stärker zu. Spätestens ab 5.45 Uhr, so steht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Nidwalden, klopfen sie gegen die Fahrerkabine und rufen dem Schlepper laut zu, er solle sie befreien – weil sie zu ersticken drohen. Der Gambier ignoriert die Hilferufe und brettert unbeirrt weiter über die Autobahn.
Die Rettung ist allein dem «Instinkt der Beamten» zu verdanken, wird Senad Sakic, Chef der Kriminalpolizei Nidwalden, später sagen. Bei der Ausfahrt Hergiswil halten die Polizisten den Lieferwagen um 6.45 Uhr an. Im Laderaum entdecken sie 23 Personen, die extrem erschöpft, ja halb benommen sind. «Die Flüchtlinge verbrachten mehrere Stunden auf engstem Raum ohne Fenster. Das ist menschenunwürdig und psychisch und physisch extrem belastend», sagt Sakic. Der Kripochef steht an diesem Tag selber im Einsatz und kauft in einem nahe gelegenen Coop Wasser für die gebeutelten Menschen. Der Schlepper sitzt seither im Gefängnis.
Am 6. Juli findet vor dem Kantonsgericht Nidwalden der Prozess im abgekürzten Verfahren statt. Das bedeutet: Der Schlepper ist geständig und akzeptiert seine Strafe. Das Gericht muss das Strafmass noch absegnen. Die Staatsanwaltschaft beantragt drei Jahre Haft wegen mehrfacher qualifizierter Freiheitsberaubung unter erschwerten Umständen (Gesundheitsgefährdung) und das Erleichtern der rechtswidrigen Einreise. Die Hälfte davon muss der Angeklagte hinter Gitter absitzen. Im nächsten März wird er aus dem Strafvollzug entlassen.
Die Anklageschrift fördert neue Details zutage. Demnach war der Gambier Teil eines Schleppernetzwerkes, das Menschen von Italien nach Basel beförderte. Von dort ging die illegale Reise weiter nach Deutschland oder Frankreich. Im August letzten Jahres schleuste der Gambier in acht Fahrten jeweils drei bis vier Menschen in einem Auto in die Schweiz. Am 3. September 2022, zwei Tage bevor ihn die Polizei stoppte, hatte er schon einmal 23 Migranten in einem Lieferwagen nach Basel transportiert.
Der Fall im Kanton Nidwalden ist für die Schweiz bis jetzt einzigartig. Das Bundesamt für Polizei hält es aber für sehr wahrscheinlich, dass mehr Last- und Lieferwagen mit versteckten Migranten durch die Schweiz rollen. In der Tat dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Jeden Tag überqueren 1.1 Millionen Fahrzeuge und 21'000 Lastwagen die Grenze. Sie alle zu kontrollieren, ist unmöglich. Von Januar bis Ende Mai dieses Jahres registrierte das Bundesamt für Zoll 150 mutmassliche Schlepper. Im gleichen Zeitraum griff es 14'821 illegale Migranten auf.
Die knapp verhinderte Tragödie im Kanton Nidwalden erinnert an das Drama vom 27. August 2015 im österreichischen Parndorf. In einem Kühllastwagen wurden 71 Leichen gefunden. Mehrere Menschenschmuggler kassierten nachher in Ungarn lange Haftstrafen. Die Beispiele zeigen: Für die skrupellosen Schleuserbanden zählen Menschenleben nicht viel. In Österreich etwa kommt es immer wieder zu schweren Unfällen, auch mit Todesopfern, wenn Schlepper vor der Polizei davonrasen.
Der Gambier lebte seit einigen Jahren in Italien und arbeitete gemäss dem Linkedin-Profil für einen Kurierdienst. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat den 27-jährigen, zweifachen Familienvater im Gefängnis in Stans besucht. Er habe für die Fahrten in die Schweiz zwischen 100 bis 250 Euro erhalten. Für die Schlepperdienste vom 5. September 2022 sollten es 200 Euro sein. Seine Auftraggeber sollen pro Migrant 500 Euro verlangt haben. Überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Klar aber wird: Gross Kasse gemacht haben dürften die Hintermänner. Der Gambier fühlt sich von ihnen ausgenutzt. Als Motiv für seine Taten nannte er finanzielle Schwierigkeiten. Er habe ein krankes Kind.
Nach dem letztjährigen Vorfall hat die Kantonspolizei Nidwalden ihre Aktivitäten im Kampf gegen Schlepper verstärkt. Man achte auf verdächtige Fahrzeuge und arbeite mit dem Zoll zusammen, sagt Kripochef Sakic. Die Nidwaldner Staatsanwaltschaft steht im Austausch mit den italienischen Strafverfolgungsbehörden. Nach bisherigen Erkenntnissen agierten die Hintermänner vor allem von Italien aus.