Plötzlich hält der Lastwagen. Die Ladetüre geht auf. «Du kannst rauskommen», sagt der Fahrer. Khaled Hussein schiebt Kisten beiseite und bahnt sich den Weg zur Laderampe. Er blinzelt in das gleissende Licht. Als er aussteigt, sacken seine Beine zusammen. 20 Minuten liegt Khaled regungslos auf dem Asphalt - so steif ist sein Körper. Er richtet sich auf. Sucht einen Orientierungspunkt.
Der Schlepper hat sich längst aus dem Staub gemacht. Khaled sieht eine Strasse. Häuser. Gärten. Und dann sieht er die rot-weisse Flagge: «Ich habe es geschafft.» Sein erster Gedanke: «Ich muss meinen Bruder kontaktieren.» Doch wie? Das Smartphone haben ihm die Schlepper abgenommen.
In der Nähe steht ein Bezahltelefon. Khaled ist froh, hat ihm ein anderer Flüchtling in Griechenland vorsorglich Schweizer Kleingeld gegeben. Er wirft die Münzen ein. Drückt die neun Ziffern, die er während seiner einjährigen Flucht immer wieder aufgesagt hat. Es klingelt. Sein Herz pocht. Als sein Bruder abhebt, schnürt es Khaled einen Moment lang die Luft ab. «Wo bist du?», fragt er. Khaled sagt: «Ich bin hier, nur weiss ich nicht wo.»
Er solle jemanden nach einem Mobile fragen, sagt sein Bruder. Khaled läuft die Strasse entlang, ein Paar kommt ihm entgegen. Sie sind hilfsbereit und melden sich bei Khaleds Bruder. Er sagt: «Du bist in Genf. Bleib, wo du bist. Ich hole dich.» Von St.Gallen werde es aber drei bis vier Stunden dauern.
Khaled wartet. Plötzlich spürt er die Müdigkeit der Flucht. Bis heute weiss er nicht, wie viele Tage er im Lastwagen eingepfercht war. Zu zweit in einer winzigen Lücke, dabei einzig Wasser und Früchte. Wenn es hell ist, ist Tag, und wenn es dunkel ist, Nacht. Und dann ist es wieder hell, ein Tag vorbei.
Motorenlärm reisst ihn jäh aus seinen Gedanken. Ein Auto hält neben ihm. «Ich habe dich nicht erkannt», sagt ein Mann. Sechs Jahre haben sich die beiden Brüder nicht mehr gesehen. «Als ich dich zuletzt sah, warst du ein kleiner Junge.» «Du hast dich auch verändert», sagt Khaled.
Der heute 21-Jährige erzählt die letzte Episode seiner Flucht auf dem Sofa in seiner Wohngruppe im sankt-gallischen Goldach. Im Alter von 15 Jahren hat sich Khaled aufgemacht und seine Eltern sowie das kleine Dorf Derik im kurdischen Teil Syriens zurückgelassen. Er ist seinem älteren Bruder gefolgt, der gleich nach Ausbruch des Bürgerkrieges im März 2011 in die Schweiz geflüchtet ist.
Khaled erinnert sich an seine einjährige Flucht, als wäre es gestern gewesen. Doch eigentlich möchte er anderes erzählen. Er ist gestresst: Nächste Woche steht die Lehrabschlussprüfung (LAP) an. Der Syrer schliesst diesen Sommer eine zweijährige berufliche Grundbildung als Sanitär ab.
Schon in Syrien wollte er diesen Beruf lernen. Wenn er von seiner Faszination für den Handwerkerjob spricht, glänzen seine Augen. Warmwasser, Leitungen, Service und Kontakt mit Menschen. «Es ist ein befriedigender, aber anspruchsvoller Job.»
So viel Ausdauer und Beharrlichkeit er auf seiner Flucht an den Tag gelegt hat, so zielstrebig geht er sein neues Leben in der Schweiz an. Im Asylzentrum für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge im sankt-gallischen Marienburg, wo er die ersten drei Jahre verbringt, stürzt er sich auf den Schulstoff und lernt Deutsch und Mathematik. Wichtig ist auch die Unterstützung des Trägervereins Integrationsprojekte St.Gallen (TISG), der im Auftrag der Gemeinden Geflüchtete betreut (siehe Box).
Nach einem Jahr in der Schweiz macht Khaled Ernst. Bei Google gibt er «Sanitär St. Gallen» ein. Der erste Treffer wird für ihn gleich zum Volltreffer. Er zögert nicht und schickt per E-Mail eine Blindbewerbung an Rolf Meier Sanitär. Zu Khaleds Erstaunen lädt ihn der «Meister», wie er seinen Chef nur nennt, zu einem Schnuppertag ein. Im Asylzentrum glauben sie, er scherze.
Aus dem Tag wird eine Woche und daraus ein einjähriges Praktikum. Die Bilanz fällt danach für beide Seiten gut aus. Khaled gefällt es in dem familiären 5-Mann-Betrieb. Und sein Bruder wohnt gleich gegenüber. Zufrieden ist auch der «Meister». Das Unternehmen bietet Khaled eine vierjährige Lehre als Sanitär an. «Wenn man etwas will, muss man hart arbeiten», sagt der Syrer.
Und der Anfang ist hart. Es hapert beim Deutsch, Schweizerdeutsch versteht er überhaupt nicht. Für Khaled eine seltsame Erfahrung: «Im Sprachunterricht lernt man Hochdeutsch, aber auf der Strasse sprechen alle eine andere Sprache.» Das sollte sich bald ändern - auch dank seiner Arbeitskollegen. Wer ihn heute im breiten Ostschweizer Dialekt reden hört, muss genau hinhören, um sprachliche Unstimmigkeiten zu entdecken.
Trotzdem sieht Khaled bald ein, dass das Niveau an der Berufsschule für ihn zu hoch ist. Gemeinsam mit dem Lehrbetrieb beschliesst er, erstmals eine berufliche Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest zu absolvieren. Nach dem Sommer kann er im Lehrbetrieb bleiben. Seit er den Führerausweis besitzt, geht er auch alleine auf Kundenbesuche. «Ein gutes Gefühl», sagt Khaled. Er mache am Ende aber immer ein Foto, um es dem Chef zu zeigen.
Nicht ohne Grund: Bei einem Sanitär kann vieles schiefgehen, wie Khaled aus eigener Erfahrung weiss. Einmal soll er eine Leitung kürzen. Allerdings vergisst er, das Wasser abzudrehen. «Ich beginne also mit der Tigersäge zu sägen, als plötzlich eine Wasserfontäne aus der Leitung spritzt.» Der «Meister» steht zum Glück gleich daneben und reagiert.
Auch der Lehrbetrieb betritt Neuland. Der Syrer ist der erste Ausländer und Flüchtling im Unternehmen. Was können seine Arbeitskollegen von ihm lernen? «Vielleicht, dass man auch harte Zeiten durchstehen kann», sagt Khaled. Wenn er von seiner Flucht erzähle, würden alle grosse Augen machen.
Die Schilderungen sind verstörend. Er ist ein Jahr auf der Flucht, hat zu Fuss und in Bussen die Türkei durchquert. Als schwierigste Etappe erweist sich die Überfahrt nach Griechenland. Erst beim sechsten Mal klappt die Bootsfahrt. Davor wird Khaled fünf Mal von griechischen Grenzbeamten aufgegriffen, geschlagen, per Boot zurückgefahren und schliesslich am türkischen Ufer am Strand über Bord geworfen. Danach verbringt er eine Nacht im Gefängnis. Dann geht das Ganze von vorne los.
Ob er die Flucht bereut? «Ich hatte keine andere Wahl, sonst wäre ich im Krieg gestorben.» Khaled besucht die neunte Klasse, als die Schule wegen des Bürgerkriegs geschlossen wird. Er ist zu Hause eingesperrt und muss sich verstecken. Die Truppen von Bashar al-Assad durchkämmen gezielt kurdische Dörfer, um junge Männer für die Front zu zwangsrekrutieren. Als die Situation immer gefährlicher wird, entschliesst sich Khaled zur Flucht.
Alle seine neun Geschwister sind aus Syrien geflohen. Drei Schwestern leben in Deutschland, zwei seiner Brüder in der Schweiz. Und drei Schwestern und ein Bruder haben das Land in Richtung Nordirak verlassen. Zurückgeblieben sind einzig seine Eltern.
Wenn Khaled über sie spricht, wird sein Blick traurig. Ihn plagen Gewissensbisse. Seine Mutter hat ihm mal gesagt: «Ich habe zehn Kinder grossgezogen und jetzt ist niemand da, der sich um mich kümmert.» Er würde die Eltern gerne in die Schweiz holen, um sich um sie zu kümmern. «Sie sind krank und auf Medikamente angewiesen.»
Es ist das Traurige an der Flucht. Wer geht, lässt die liebsten Menschen zurück. Selbst ein Besuch bei seinen Schwestern in Deutschland ist nicht möglich. Khaled ist kein anerkannter Flüchtling, sondern vorläufig aufgenommen. Jedes Jahr muss der F-Ausweis wieder um 12 Monate verlängert werden. Und er darf die Schweiz nicht verlassen. Trotzdem sagt Khaled: «Hier habe ich die Chance auf ein besseres Leben.» (aargauerzeitung.ch)
Andere erfüllen weniger Kriterien und kriegen den Ausweis C. Aber die haben halt Kohle…