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Kastanien im Tessin: Darum steht der Baum in der Schweiz unter Druck

Tessiner Kastanien
Die Edelkastanie gehört zum Tessin. Doch wie lange noch?Bild: Shutterstock

Kastaniensterben im Tessin – das sind die Gründe

Edelkastanien und das Tessin gehören einfach zusammen. Seit einigen Jahren bekunden die Bäume aber Mühe in der Sonnenstube der Schweiz. Das sind die Gründe dafür – und so kann der Baum gerettet werden.
25.06.2023, 19:05
Reto Fehr
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Wer ans Tessin denkt, denkt automatisch auch an Kastanien. Während Jahrhunderten war der Baum wichtig für die Ernährung. Die «Königin des Herbstes» lieferte für viele Tessiner das «Brot der Armen». Heute kennen wir Kastanien alle in Form von Maroni, Vermicelles, Brotmehl, Polenta oder gar Bier.

Obwohl die Edelkastanie (Castanea sativa) selbst «erst» vor 2000 Jahren von den Römern ins Tessin gebracht wurde, entwickelte sie sich zur kulturell, landwirtschaftlich und letztlich auch forstwirtschaftlich wichtigsten Baumart im Kanton. Teilweise findet man zwischen 200 und 1200 Metern über Meer an den entsprechenden Hängen praktisch geschlossene Kastanienwälder. «Im Tessin gilt der Kastanienbaum an Standorten unter 1000 Metern als dominant», wie Dr. Marco Conedera, Leiter der Forschungseinheit an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), auf Anfrage sagt.

Allerdings gerät der Kastanienbaum auch unter Druck. Schon vor rund zehn Jahren wurde über eine Kastanienkrise im Tessin berichtet. Grund damals: die Kastanien-Gallwespe, welche praktisch auf jedem Baum zu finden war.

Die Gallwespe

Kastanien-Gallwespe Tessin Kastanien
Die Kastanien-Gallwespe machte den Tessiner Kastanien das Leben schwer.Bild: Shutterstock

Die Gallwespe wurde 2009 in Mendrisio erstmals in der Schweiz entdeckt. Das aus China eingeschleppte Insekt war damals aber schon ziemlich verbreitet im Mendrisotto und Luganese. Mittlerweile hat sie sich im ganzen Tessin und auch in anderen Regionen der Schweiz breit gemacht, insbesondere im Wallis und der Waadt. Marco Conedera sagt: «Die Gallwespe verursachte während rund fünf Jahren, insbesondere im Süd- und Zentraltessin, grosse Schäden.»

Gallwespen legen Ihre Eier in neu gebildete Knospen. Dort überwintern die Larven, während des Austriebs im Frühling werden sie aktiv. Frucht- und Triebbildung werden beeinflusst und nach mehrjährigem Befall verkümmern die Bäume.

Kastanienwälder Tessin Kastaniensterben Gallwespe starker Befall
Kastanienast mit starkem Befall von Gallwespen.Bild: WSL/E. Gehring

Das Problem mit der Gallwespe hat sich aber entschärft. Denn aus Italien wanderte die dort ausgesetzte Schlupfwespenart Torymus sinensis ein. Das ebenfalls aus China stammende Tier ernährt sich ausschliesslich von Larven der Gallwespe. Tritt sie auf, dauert es zirka acht bis zehn Jahre, bis ein Gleichgewicht zwischen den beiden Insekten entsteht. Die Schlupfwespe ist für andere einheimische Arten bisher kein Problem.

Wo die Gallwespe aber während fünf Jahren ohne Antagonisten wuchern konnte, haben die Kastanienbäume so starke Schäden genommen, dass sie nun vermehrt absterben.

Doch die Wespe ist nur ein Faktor, weshalb die Tessiner Kastanien unter Druck sind.

Die Tintenkrankheit

Ein weiterer wichtiger Grund für das Leiden der Kastanien ist die Tintenkrankheit. Dabei werden die Wurzeln von einem pilzähnlichen Parasiten befallen, der den Wurzelapparat beschädigt. So geht die Nährstoffzufuhr kaputt. Bei heftigen Angriffen sterben befallene Bäume nach zwei bis drei Jahren ab. Den Namen erhielt die Krankheit, weil an der Baumbasis häufig schwarz-bräunlicher Baumsaft austritt.

Tintenkrankheit Edelkastanien Tessin Schweiz Kastaniensterben
Ein von der Tintenkrankheit befallener Baum.Bild: WSL

Die Tintenkrankheit macht Edelkastanien in ganz Europa zu schaffen. Zwei Eipilze lösen sie aus. Beide Krankheitserreger sind kälteempfindlich. Sie profitieren von der globalen Erwärmung.

Kastanienwälder Tessin Kastaniensterben Tintenkrankheit Torricella TI
Durch die Tintenkrankheit abgestorbene Bäume bei Torricella.Bild: WSL/Marco Conedera

Selbst die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat bisher keine effektive Methode gefunden, um die Krankheit zu besiegen. Conedera erklärt: «Die Tintenkrankheit ist auf dem Vormarsch. Da der Erreger im Boden ist, kann man nur wenig dagegen tun, ausser zu versuchen, die Bäume mit Düngung zu stärken. Die Bekämpfung ist aufwendig und verhältnismässig wenig erfolgreich.»

Verschärft wird die Situation dadurch, dass die Tintenkrankheit eine Primärkrankheit ist. Das bedeutet, sie greift auch gesunde Bäume an. Im Tessin tritt sie besonders an Hotspots wie dem Locarnese oder im Maggiatal oberhalb von Avegno auf. In Graubünden hat sie sich im Bergell breit gemacht.

Der Kastanienrindenkrebs

Eine weitere Krankheit ist der Kastanienrindenkrebs. Auch er stammt aus Asien und ist aktiv, aber selbst von einem Virus befallen. «Aktuell zählen wir ihn nicht zu den grossen Problemen», sagt Conedera.

Im Gegensatz zur Tintenkrankheit greift der Kastanienrindenkrebs eher verletzte oder geschwächte Bäume an. In den USA richtete er grossen Schaden an, in Europa und der Schweiz glücklicherweise weniger, könnte aber im Fall von einer generellen Schwächung der Kastanienwälder (z. B. im Fall einer längeren Trockenheit) doch eine Rolle spielen.

Die Trockenheit

Wir haben es oben schon gesehen: Die Erreger der Tintenkrankheit profitieren von der globalen Erwärmung. Diese spürt man auch im Tessin seit Jahren.

Kastanienwälder Tessin Kastaniensterben Tote Kastanien im Maggiatal
Tote Kastanien im Maggiatal.Bild: WSL/Marco Conedera

Seit dem Hitzesommer 2003 ist es im Tessin praktisch dauernd zu trocken. Obwohl sie auch viel Sonne benötigt, hat die Kastanie Sommerdürre bei höheren Temperaturen überhaupt nicht gern. Langfristig ist darum fraglich, wie lange die Kastanie im Tessin noch an den oberflächlichen und wenig wasserversorgten Standorten wild wächst.

Die fehlende Bewirtschaftung

Kastanien wurden im Tessin früher vor allem im Niederwald kultiviert. Vereinfach gesagt: Der Baum wurde immer wieder zurückgeschnitten, aus einem Stock wuchsen mehrere Stämme. Das war intensiv in der Bewirtschaftung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Niederwälder vernachlässigt, weil der Pflegeaufwand zu hoch war.

Die Folge: zu grosse Kronen bei zu kleinen Wurzeln. Nach einigen Jahrzehnten wird die Kraft zu gross – die Kastanien kippen um. Vor so einem Stockwurf sind die gesunden Kastanienbäume nicht gefeit.

Kastanienwälder Tessin Kastaniensterben Stockwürfe Kastanienniederwald
Stockwurf von Kastanien im Niederwald.Bild: P. Bomio-Pacciorini

Der Wildverbiss

Sterben Kastanien ab, müssen neue nachwachsen. Im Tessin mit dem vielen Wild ist dies aber nicht so einfach. Eigentlich wäre die Kastanie kompetitiv, wenn sie Platz hat zu wachsen.

Aber gegen den Wildverbiss ist man bei grösseren Flächen ziemlich machtlos. «Alles einzäunen geht nicht und jedes Bäumli einzeln zu schützen, wäre ein zu grosser Aufwand», gibt Conedera zu verstehen. Anders sieht es bei den Neophyten aus, welche vom Wild in Ruhe gelassen werden.

Die Neophyten

Womit wir beim letzten Punkt wären. Denn es gibt Gehölze und Pflanzen, die sich mittlerweile besser an die Bedingungen im Tessin gewöhnt haben als die Edelkastanie. Da wäre zum Beispiel der Götterbaum oder die «Tessiner» Palme, eine Art, die inzwischen zu einem der Symbole für den Südkanton geworden ist.

Spätestens bei diesem tausendfach geknipsten Bild von Ascona wirst du wissen, welches die Tessiner Palme ist.
Spätestens bei diesem tausendfach geknipsten Bild von Ascona wirst du wissen, welches die Tessiner Palme ist.Bild: Reto Fehr

Die «Tessiner» Palme

Doch auch wenn diese überall wächst, auch sie ist eingewandert und ein Neophyt. Denn die «Tessiner» Palme ist eine chinesische Hanfpalme. Im Frühling dieses Jahres publizierte die WSL eine Studie zu dieser Pflanze.

Die vor 50 Jahren in den Gärten gepflanzten Individuen dienen nun als Samenlieferanten und lassen diese Art in den naheliegenden Wäldern schnell ausbreiten. Denn die Palme hat einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Kastanie und anderen Bäumen: Im Winter setzt die immergrüne Pflanze ihr Wachstum fort, wenn die anderen Bäume ihre Blätter verlieren. Im Sommer ist sie schattenertragend, bleibt im Unterholz und schnappt sich den Platz der natürlichen Waldverjüngung. Da beispielsweise junge Kastanien viel Sonne benötigen, können diese dann nicht mehr nachwachsen, weil die Palmen Schatten geben.

Das WSL empfahl im Frühling, wie man das weitere Ausbreiten der Palme zumindest eindämmen und verlangsamen kann.

Der Götterbaum

Doch die Palme ist nicht der einzige Neophyt, der den einheimischen Pflanzen die Plätze streitig macht. Auch der Götterbaum hat gegenüber der Kastanie Vorteile.

Der sommergrüne Baum wächst schnell in die Höhe und verdrängt einheimische Gehölze.

Kastanienwälder Tessin Kastaniensterben Götterbaum unter Kastanien
Götterbäume wachsen unter den Kastanien.Bild: WSL/Marco Conedera

Wie geht es weiter?

Das Problem ist nicht neu, die Schädlinge und Krankheiten sind schon länger da. Aber: «In den letzten Jahren kam im Tessin alles zusammen: mangelnde Bewirtschaftung, Hitzeperioden, die Krankheiten», erläutert Conedera.

Sterben die Kastanien im Tessin also bald aus? «Nein», sagt Conedera. Die Kastanienwälder seien aber insgesamt zu gross, um alle zu schützen. Darum: «Ihr Bestand wird deutlich kleiner werden. Auf den geeigneten Standorten, aber, wo man sie aber bewirtschaftet und pflegt, wird die Kastanie überleben.»

Priorität dürften dabei Regionen haben, welche oberhalb von Dörfern liegen. Denn die Kastanienwälder bieten einen guten Schutz vor Murgängen und Steinschlägen in den steilen Tessiner Tälern. Die oben erwähnten Neophyten wie die Tessiner Palmen bilden weniger starke Wurzeln aus. Gegen Hangrutsche schützen sie weniger gut. Aber Conedera lässt sich nicht auf die Äste raus: «Die Neophyten, welche Kastanienwälder ersetzen, sind nicht per se schlecht. Aber die wirklichen Auswirkungen werden wir erst in 20 bis 30 Jahren kennen.»

Und auf der Alpennordseite? «Wärme hilft sicher. Die Kastanie meidet aber Kalkböden und Trockenheit. Somit sind bereits grosse Gebieten der Alpennordseite für diese Baumart ungeeignet.»

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13 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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The Majestic Sloth
25.06.2023 22:13registriert April 2019
Wenn die Kastanie auch erst vor 2000 Jahren ins Tessin gebracht wurde ist sie damit eigentlich nicht ein schon lange erfolgreicher Neophyt der alle anderen verdrängt hat? 🤔
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mitchfuchs
25.06.2023 20:25registriert Mai 2020
Sehr spannend. Und immer wieder erschreckend, wie alles zusammenhängt. Einfache Antworten gibt es nicht.
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