Die Schweizerische Nationalbank hat ihren Leitzins heute Donnerstag erneut gesenkt. Dieses Mal gleich um einen halben Prozentpunkt. Damit hat die SNB nun eine äusserst schnelle Zinswende nach unten vollzogen. Zu Jahresbeginn lag der Leitzins bei 1,75 Prozent, jetzt noch bei 0,5 Prozent.
Und es ist nicht vorbei. Die Nationalbank dürfte bald noch tiefer gehen und den Leitzins bis Jahresende 2025 auf 0 Prozent herunterbringen. So wird es derzeit von der Börse erwartet. Noch schneller fällt der Leitzins, wenn die Bank J. Safra Sarasin recht bekommt. Deren Ökonomen erwarten, dass der Leitzins schon im Juni bei 0 Prozent ankommen wird. So oder so erhalten die Banken bald nichts mehr, wenn sie der SNB ihr Geld leihen.
Diese schnelle Zinswende nach unten hat eine überraschende Vorgeschichte. Die Nationalbank findet sich in einer Situation wieder, wie sie dies vor einem Jahr wohl kaum erwartet hatte.
Sie war sehr erfolgreich im Kampf gegen den globalen Inflations-Tsunami, welchen Corona und Russlands Angriff auf die Ukraine ausgelöst hatten. Sie konnte die Inflation tiefer halten als die Europäische Zentralbank (EZB) und als die US-Notenbank Fed. Und sie konnte ihren Leitzins früher wieder senken. Dies zur grossen Erleichterung aller Hypothekarnehmer, die hierzulande über 1200 Milliarden Franken schulden.
Doch jetzt bekommt es die Nationalbank wiederum früher als EZB und Fed mit einem neuen Problem zu tun. Die Inflation könnte zu niedrig oder gar negativ werden.
Diese Gefahr ist in den Statistiken klar erkennbar. Der Landesindex der Konsumentenpreise ist im November erneut nicht gestiegen, sondern gefallen. Somit sind alle Waren und Dienstleistungen günstiger geworden, die ein typischer Haushalt für seinen Lebensunterhalt so braucht. Zwar nur leicht und nur im Durchschnitt, aber doch günstiger.
Im November war also alles ein wenig billiger als im Vormonat. Und so war schon im Oktober und im September. Im August blieb der Landesindex gleich hoch, im Juli war er ebenfalls gefallen. Geht das noch ein paar Monate so weiter, hat Schweiz endgültig negative Inflation.
Und viel spricht dafür, dass die Preise auch 2025 weiter sinken. Elektrizität, zurzeit noch einer der grössten Inflationstreiber, wird gemäss der Strombehörde Elcom um 10 Prozent billiger. Die Mieten, einer der grössten Ausgabenposten, steigen laut Prognose der Raiffeisenbank wohl nochmals, aber viel weniger stark als dieses Jahr, was die Inflation noch mehr schwächt.
Die Schweiz könnte also in eine ähnliche Inflationswelt zurückversetzt werden, wie sie vor Corona geherrscht hat. Damals hatte die Schweiz oft keine und während Jahren sogar negative Inflation, also ein sinkendes Preisniveau. Der Landesindex der Konsumentenpreise lag 2019 noch auf dem Niveau von vor zehn Jahren.
Doch was hat die Nationalbank eigentlich gegen negative Inflation? Es bedeutet bloss, als dass die Preise und damit die Kosten für den Alltag oder die Ferien sinken. Alle können sich für ihr Geld mehr kaufen. Himmlisch. Was soll daran schlecht sein?
Die Nationalbank darf nicht nur auf die Konsumenten schauen. Sie muss laut Verfassung im «Gesamtinteresse des Landes» handeln. Und das ist eine knifflige Aufgabe. Denn die einzelnen Interessen im Lande sind meist gegensätzlich. Was die einen himmlisch finden, ist für die anderen vielleicht nicht höllisch, aber doch schlecht bis sehr schlecht.
Konsumenten mögen sinkende Preise; Unternehmen eher steigende. Wer Geld verleiht, will hohe Zinsen; wer sich welches borgt, tiefe. Wer Waren im Ausland einkauft, will einen starken Franken; wer im Ausland verkauft, einen schwachen. Und so weiter und so fort. Irgendjemand ist immer unzufrieden mit der Nationalbank. Sie kann es nie allen recht machen.
Dabei steht für alle viel auf dem Spiel, wie Karsten Junius, Chefökonom der Bank J. Safra Sarasin, an einem Beispiel erklärt. Wenn hierzulande das gesamte Preisniveau fällt, müssen viele Betriebe sinkende Preise hinnehmen. Ihre Umsätze werden kleiner, sie verdienen weniger Geld. Also sparen sie, streichen und kürzen. Irgendwann geht es ans Eingemachte.
Es fehlt Geld für Investitionen, die überlebenswichtig wären. Oder das Sparen erreicht die Löhne, häufig der grösste Kostenblock. An sich wäre es nicht verkehrt, die Löhne zu kürzen. Schliesslich ist zugleich die Inflation negativ. Alles wird billiger und die Mitarbeiter können trotz Lohnkürzung immer noch gleich viel Waren kaufen.
Doch das ist Theorie, die in der Praxis krachend scheitert, wie die Unternehmen nur allzu gut wissen. Ihre Leute würden wütend oder lustlos, würden weniger oder schlechter arbeiten. Also kürzen Firmen nicht die Löhne, sondern paradoxerweise die Zahl der Angestellten. So gibt es mehr Arbeitslose als nötig, mehr als bei einer vernünftig hohen Inflation.
Also braucht es eine Geldpolitik, die es allen einigermassen recht macht, allen gleich gut oder gleich schlecht. Dieser Kompromiss nennt sich «Preisstabilität» und wird vom Nationalbankgesetz so vorgeschrieben. Die SNB soll also ihren Leitzins so festlegen, dass die Preise stabil bleiben.
Was wiederum unter «stabil» zu verstehen ist, darüber streiten die Ökonomen. Nichtsdestotrotz hat sich die Nationalbank darauf festgelegt, dass Preisstabilität eine Inflation zwischen 0 und 2 Prozent sein soll. Wird die Inflation negativ, toleriert sie die Nationalbank vorübergehend, aber nicht für allzu lange Zeit. Und jetzt muss sie schauen, dass es dazu nicht kommt.