Die Sonne scheint, der See glitzert, die Berge ragen in den blauen Himmel. Der Blick aus dem gläsernen Hauptsitz von Nestlé in Vevey VD sucht seinesgleichen. Doch für den 58-jährigen Konzernchef Mark Schneider schien die Sonne zuletzt nicht immer. Gleich zwei Skandale – Kritik an gezuckerter Babynahrung und illegale Mineralwasserbehandlungen – machten dem grössten Nahrungsmittelhersteller der Welt zu schaffen. Und der Aktienkurs enttäuschte die Anlegerschaft und das Analystenheer. Dennoch gibt sich Schneider im Interview optimistisch.
Nestlé betont, wie wichtig gesunde Ernährung sei. Wie sehr achten Sie selbst darauf, was auf Ihrem Teller landet?
MARK SCHNEIDER: Darauf achte ich sehr!
Und das ausschliesslich mit Nestlé-Produkten?
Natürlich nicht. Es ist nicht unser Anspruch, dass die ganze Welt sich ausschliesslich von unseren Produkten ernährt. Nestlé ist zwar der grösste Hersteller, aber wenn Sie den gesamten Getränke- und Lebensmittelmarkt anschauen, haben wir einen Marktanteil von etwa 1 Prozent.
Wie essen Sie privat?
Ich bin über die Jahre hinweg von einem achtlosen Esser zu einem sehr peniblen Esser geworden. Mir ist bewusst geworden, dass eine angemessene Ernährung die beste Gesundheitsprävention ist, noch mehr als die Bewegung. Da geht es nicht darum, nur länger zu leben, sondern auch qualitativ besser zu altern.
Dann müssten Sie in erster Linie frische statt verarbeiteter Produkte essen.
Verarbeitet heisst nicht einfach schlecht. Es geht immer um die Zutaten und die Art und Weise, wie sie verarbeitet sind. Ein hochverarbeitetes Produkt mit viel Zucker und Fett ist der Gesundheit sicherlich nicht zuträglich. Ein Protein-Isolat hingegen ist für viele Leute sehr hilfreich, zum Beispiel als Nahrungsergänzungsmittel für den Muskelerhalt.
Damit wollen Sie wohl alle Veganer für Nestlé gewinnen?
Ab 30 sollten alle Menschen darauf achten, dass sie genügend Proteine zu sich nehmen, denn der Körper braucht sie. Es gibt einen weltweiten Trend hin zu pflanzlichen Proteinen. Erstens, weil der Anbau weniger umweltbelastend und zweitens potenziell billiger ist. Pflanzliche Burger, die noch vor ein paar Jahren einen Hype erlebt haben, waren erst der Anfang. Es gibt heute ungekühlte Pulver auf Sojabasis, mit denen man Fleisch oder Eier «strecken» kann. Für das gleiche Rezept benötigen Sie dann nur noch drei statt acht Eier. Das ist ressourcenschonender, günstiger, gesünder – und je nach Weltregion auch viel besser zu lagern.
Wie oft stehen Sie zu Hause selbst am Herd?
Am Wochenende koche ich gerne selbst, mit frischen, aber auch mit verarbeiteten Nestlé-Produkten. Unter der Woche mache ich jeden Morgen Smoothies für die Familie. Dafür stehe ich auch gerne früher auf. Ich verwende frisches Gemüse und Obst sowie eines unserer Collagen- oder Proteinpulver. So hält das Sättigungsgefühl länger an.
Einen grossen Teil Ihres Umsatzes erzielen Sie nach wie vor mit weniger gesunden Klassikern wie Thomy-Mayonnaise, Kitkat-Schokolade oder Fertigpizzen. Sieht das in Zukunft völlig anders aus?
Nein. Wir haben uns der gesunden Ernährung verschrieben, aber wir können und wollen die Realitäten nicht ausblenden. Und dazu gehören Genuss, Geschmack und Soziales. Manchmal sitzt man zusammen und trinkt etwas, obwohl man keinen Durst hat. Und manchmal hat man Lust auf Süsses. Wir haben ein breites Angebot.
Das passt nicht zu Ihrem Gesundheitsanspruch.
Das sehe ich anders. Wir haben klar gesagt, dass wir auch an den genussorientierten Produkten festhalten möchten. Gleichzeitig wollen wir die Konsumenten aber so weit wie möglich zu einer ausgewogenen Ernährung animieren. Dazu gehört, dass wir bei Kindern unter 16 Jahren auf Werbung für Süssigkeiten und Glacé verzichten. Freiwillig. In Europa setzen wir auf den Nutri-Score und in anderen Ländern auf spezifische Ernährungshinweise. So kann der Konsument auf einen Blick eine informierte Wahl treffen.
Wo hört Information auf und wo fängt die Bevormundung an?
Ich halte den Nutri-Score nicht für belehrend. Es ist ein leicht verständliches System, das den Konsumenten nützliche Hinweise liefert.
Ein solches System funktioniert dann, wenn möglichst viele Marktteilnehmer mitmachen. Migros und Emmi verzichten nun auf den Nutri-Score. Bedauern Sie das?
Wir haben früh realisiert, dass es in Europa kaum einen Konsens für ein einziges Modell geben wird. Bei Nestlé glauben wir nach wie vor an den Nutzen vom Nutri-Score. Natürlich hat jedes System Vor- und Nachteile. Nicht jedes Produkt kann damit in all seinen Facetten detailliert abgebildet werden.
Was bringt ein «E» – also die schlechteste Wertung – auf einer Schokolade ausser ein schlechtes Gewissen? Jeder weiss, dass sie ungesund ist.
Ich halte das für nicht aufdringlich. Es ist ein sinnvoller Hinweis und unterstützt den verantwortungsbewussten Konsum. Letztlich geht es immer um das Streben nach gesunder Ernährung. Zudem ist es unser Ziel, langfristig den Zucker- und Salzanteil in unseren Produkten stetig zu senken.
Ungesunde Produkte dürften es künftig schwerer haben, weil vermehrt Menschen zu Fett-weg-Spritzen greifen, die den Hunger stillen. Spüren Sie schon einen Effekt?
Nein. Sie sprechen von den sogenannten GLP-1-Medikamenten. Ich sehe allerdings deren grosse gesellschaftliche Bedeutung, denn sie stellen einen wichtigen Fortschritt dar bei einem der grössten Gesundheitsprobleme der letzten Jahrzehnte: der Fettleibigkeit. Viele Menschen möchten Gewicht verlieren, geben ihre Diäten aber oft wieder auf und fühlen sich dann schlecht. Mit diesen neuen Therapien zeigen sich hingegen rasch gute Resultate.
Schlecht für Ihr Geschäft!
Falsch. Uns hilft es, wenn die Leute über Ernährung nachdenken. Das ist wie bei Covid, als man untereinander plötzlich verglich, welche Impfung man hatte. Nun vergleicht man die GLP-1-Medikamente und verschiedene Diäten. Ich erwarte in den kommenden Jahren weitere und günstigere Therapien. Auf diese Realität müssen wir uns einstellen, das lässt sich nicht wegreden. Das Bedürfnis nach Ernährung verschwindet ja nicht, es verändert sich nur.
Wie?
Wenn man eine solche Therapie verfolgt, muss man darauf achten, dass man nicht zu viel Muskelmasse verliert und dass man weiterhin alle Vitamine und Spurenelemente zu sich nimmt. Deswegen liegen unsere Nahrungsergänzungsmittel und Proteinprodukte voll im Trend. In den USA haben wir zudem kürzlich eine neue Tiefkühllinie lanciert, die sich speziell an GLP-1-Kunden richtet.
Bald auch in Europa und in der Schweiz?
Vorerst gibt es sie nur in den USA. Wir prüfen nun, in welchen europäischen Ländern wir vergleichbare Lösungen anbieten können. Protein- und Collagenprodukte sind bereits in der Schweiz erhältlich.
Das klingt nach einer Revolution in der Nahrungsmittelbranche.
Es ist ein Thema, dass die nächsten Jahre das Nachfrageverhalten der Konsumenten nachhaltig beeinflussen kann. Diesem Trend stellen wir uns, denn er hängt mit unserem Ziel zusammen, mit Nahrung das gesunde Altern zu unterstützen.
Sie als CEO müssen diese Gesundheitsziele selbst vorleben, um ein glaubwürdiger Botschafter zu sein.
Es braucht in erster Linie die Begeisterung für die Produkte. Wenn sich ein Chef eines Autoherstellers nicht für seine Fahrzeuge interessieren würde, wäre das schliesslich auch seltsam. Da erwähne ich gerne nochmals meine Smoothie-Passion. Ich habe noch nie ein Rezept dafür herausgesucht, sondern versuche stets selbst wieder einen neuen Mix zu kreieren.
Vor ein paar Jahren überboten sich die Firmen mit ambitionierten Nachhaltigkeitszielen. Manche haben nun zurückbuchstabiert, etwa auch Ihr Konkurrent Unilever. Will sich Nestlé seine grünen Ziele noch leisten?
Wir halten an unserem Netto-Null-Ziel bis 2050 fest. Das ist ein langfristiges, realistisch gesetztes Ziel. Als wir es festgesetzt haben, wurden wir zum Teil als zu wenig ambitioniert kritisiert. Nun hat der Wind gedreht, aber wir bleiben dabei. Bei langfristigen Zielen können wir nicht wie Tageshändler vorgehen – weder in der Forschung noch in der Nachhaltigkeit. Es braucht Jahre, bis ein heute in unserer Lieferkette gepflanzter Schattenbaum etwas zur Verminderung der CO₂-Gase beiträgt. Man kann bei solchen grundsätzlichen Fragen nicht einfach ständig etwas abändern, nur weil die Strasse etwas holprig ist.
Es holpert aber gerade ziemlich stark. Nestlés Zahlen waren jüngst nicht so gut, der Aktienkurs bewegt sich auf demselben Niveau wie vor fünf Jahren. Was läuft falsch?
Als CEO möchte ich nicht über den Aktienkurs spekulieren. Was man sicherlich sehen muss: Alle Nahrungsmittelhersteller spüren die Auswirkungen der Inflationswelle der letzten beiden Jahre. Während der Coronapandemie stieg die Nachfrage nach Produkten, weil die Menschen zu Hause bleiben mussten und nicht mehr ins Restaurant konnten. Zudem konnten wir die Lieferketten recht gut aufrechterhalten. Aber wir wussten damals schon, dass der Ausstieg aus dieser Phase schwierig werden würde. Hinzu kam dann etwas, das wir nicht vorhersahen: ein Inflationsschub wie seit 50 Jahren nicht mehr.
Der hat alle betroffen, nicht nur Nestlé.
Unsere ganze Branche hat unter dem Inflationsschub gelitten. Die Nahrungsmittelproduktion ist energieintensiv - vom Düngemittel über Anbau und Verarbeitung hin zu Transport und Kühlung. Deshalb wurden unsere Lebensmittel teurer, was wiederum den Absatz drückte. Wir hatten in der Folge sechs Quartale in Folge mit stabiler bis negativer Entwicklung. Das ist für Nestlé ungewöhnlich und neu. Wir sehen jetzt aber eine Stabilisierung der Situation.
Das heisst?
Ab dem zweiten Quartal und für den Rest des Jahres ist wieder mit einem stabilen, positiven Wachstumsbeitrag durch Volumen und Produktemix zu rechnen.
Anleger vermissen auch eine Wachstumsstory.
Die beiden grossen Wachstumsfelder der letzten Jahre, Kaffee und Tiernahrung, legen weiterhin zu. Unsere Kaffeeprodukte sind in Ländern wie Indien und China auf dem Vormarsch, zum Teil gewinnt dort Kaffee auf Kosten von Tee. Was Tiernahrung betrifft, eröffnen sich Wachstumschancen, weil in Schwellenländern immer mehr Leute Haustiere halten. Und immer mehr Leute wollen diese mit spezifischer Tiernahrung und nicht mit Essensresten ernähren. Ein neueres Wachstumsfeld liegt im Trend des «Healthy Aging», über den wir am Anfang sprachen, also dem Wunsch nach hoher Lebensqualität und Mobilität bis ins fortgeschrittene Alter.
Ihre siebenjährige Amtszeit war weitgehend skandalfrei, nun aber haben Sie ein «Watergate»: Nestlé hat in verschiedenen Ländern Wasser illegal behandelt und es dennoch als Mineralwasser deklariert, so auch Vittel und Henniez. Wie konnte es dazu kommen?
In der Vergangenheit wurden Filtrierungsmethoden angewendet, die man nicht hätte anwenden sollen. Das bedauern wir. Wir haben das proaktiv den französischen Behörden mitgeteilt und sind auch mit den Schweizer Behörden im Kontakt. Wir haben uns verpflichtet, hier Lösungen zu finden. Wir wollen da transparent und glaubwürdig sein.
Der Glaubwürdigkeit würde es helfen, wenn Sie sagen würden, welche anderen Länder sonst noch betroffen sind.
Wir müssen den Gesprächen mit den dortigen Behörden Vorrang geben und sollten nicht vorpreschen, bevor die offenen Fragen geklärt sind.
Die Konsumenten würden mehr Transparenz schätzen.
Das kann ich nachvollziehen und wir bemühen uns um eine zügige Lösung; mit vorschnellen Äusserungen ist derzeit niemandem gedient.
Einen zweiten Skandal hat die Nichtregierungsorganisation Public Eye aufgedeckt: Nestlé hat Babymilch-Produkte in ärmeren Ländern mit Zucker versetzt, in westlichen Ländern hingegen nicht. Wieso?
Wir haben hier nicht, wie von der Organisation behauptet, einen doppelten Standard.
Zugesetzter Zucker bei Babymilchprodukten verstösst gegen die Richtlinien der Weltgesundheitsbehörde WHO.
Keines der Produkte, das wir anbieten, verstösst gegen Richtlinien der WHO. Da gab es Missverständnisse und wir suchen den Dialog.
Das heisst, Sie passen die Rezepte an?
Diesen Weg haben wir bei den Babymilchprodukten schon seit längerem beschritten. Wir bieten auch bei den Müsli für Babys mehr und mehr Varianten an, mit weniger oder gar keinem zugefügten Zucker. Die Konsumentinnen und Konsumenten sollen die Wahl haben.
Sie sind 58-jährig, möchten Sie bei Nestlé pensioniert werden?
Ich bin hier ausgesprochen motiviert und happy und möchte noch gar nicht über die Pensionierung nachdenken.
Werden Sie mal noch eine weitere Nestlé-Fabrik in der Schweiz eröffnen?
Jeder neue Standort muss immer gut überlegt werden. Bestehende Fabriken aber verstärken wir. Ein Beispiel: Die Produktion von Nespresso-Kapseln in Romont und Avenches haben wir in den letzten Jahren ausgebaut und das wird bei wachsender Nachfrage so weitergehen. Da wollen wir zuerst das vorhandene Potenzial in der Schweiz ausschöpfen. Zudem darf man nicht unterschätzen, was wir in die Forschung investieren: Vom globalen Forschungsaufwand von 1,7 Milliarden Franken entfallen 60 Prozent auf die Schweiz. Das ist ein klares Bekenntnis zur Schweiz. (aargauerzeitung.ch)
Über ersteres wüsste ich gerne von einem Biologen mehr, über zweites von einem Juristen, und über drittes von einem Arzt.
Der Nestlé-Chef kann mir von mir aus etwas über Betriebswirtschaft erzählen.
OK - darf ich das anzweifeln?
Darf ich behaupten, dass jeder Mensch
1- zuallererst sauberes und zugängliches fließendes Wasser braucht (ein Grundrecht) und
2- frische, saisonale und lokale Qualitätsprodukte braucht?
Es wäre schön, wenn Nestlé diese beiden Punkte beherzigen würde.