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Gletscher-Initiative: «Die Schweiz sollte eine Vorreiterrolle einnehmen»

Interview

ETH-Experte zur Gletscher-Initiative: «Die Schweiz sollte eine Vorreiterrolle einnehmen»

Bis 2050 soll die Schweiz Netto-Null-Emissionen erreichen. Dieses Ziel verfolgt sowohl die Gletscher-Initiative als auch der indirekte Gegenvorschlag. Anthony Patt, Professor für Klimapolitik an der ETH Zürich, findet Letzteren «recht gut». Derweil nimmt er die Schweiz als wohlhabendes Land in die Pflicht.
15.06.2022, 05:54
Chiara Stäheli / ch media
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Er forscht seit Jahren an der Schnittstelle zwischen Klima und Politik, arbeitete an mehreren Klimaberichten der Vereinten Nationen mit und sitzt im wissenschaftlichen Beirat der Gletscher-Initiative: ETH-Professor Anthony Patt weiss, was die Schweiz tun muss, um die Erderwärmung zu stoppen. Nun nimmt er Stellung zum indirekten Gegenvorschlag, der dieser Tage im Nationalrat behandelt wird.

Des personnes manifestent lors d'un "hommage a nos glaciers", une commemoration pour les glaciers disparus au pied du glacier du Trient organise par l?Alliance Climatique et de nombreus ...
Am Mittwoch und Donnerstag berät der Nationalrat den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative.Bild: KEYSTONE

Hat die Umweltkommission gut gearbeitet?
Anthony Patt: Der indirekte Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative ist recht gut. Entscheidend ist, dass die Schweiz bis 2050 das Netto-Null-Ziel erreicht und sich kontinuierlich dorthin bewegt. Diese beiden Elemente enthält der Gegenvorschlag. Was ihm hingegen fehlt, ist ein klares Verbot fossiler Brennstoffe, wie es von den Initianten gefordert wird. Aus meiner Sicht wäre ein solches Verbot eine gute Sache, da die Erwartungen klar würden. Ich kann allerdings auch verstehen, dass das politisch schwierig ist.

Schaffen wir Netto-Null auch ohne ein Verbot fossiler Energien?
De facto entsprechen die Zielvorgaben im indirekten Gegenvorschlag einem Verbot von fossilen Energieträgern. Denn: Auch ohne gesetzlich verankertes Verbot werden wir deren Nutzung in fast jedem Sektor verbieten müssen, da dies die einzige Möglichkeit ist, tatsächlich klimaneutral zu werden. So werden mit grosser Wahrscheinlichkeit beispielsweise Neuwagen spätestens 2035 keine Emissionen mehr verursachen dürfen, das kommt einem Verbot von Verbrennern gleich.

Anthony Patt
Anthony Patt ist Professor für Klimapolitik an der ETH Zürich.Bild: ETH Zürich

Was braucht es, damit die im Gegenvorschlag definierten Ziele erreicht werden?
Die notwendigen Massnahmen müssen immer der Entwicklung angepasst werden. Wir können also heute noch nicht sagen, welche Massnahmen wir 2040 brauchen werden. Es ist aber klar, was jetzt getan werden muss. Ich denke da beispielsweise an den Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos oder den raschen Ausbau der erneuerbaren Energien. Weil wir jetzt aber noch nicht alle Massnahmen bis 2050 festlegen können, muss das Parlament in den kommenden Jahren und Jahrzehnten regelmässig das CO2-Gesetz revidieren und an die Umstände anpassen. Denn dem Gegenvorschlag zufolge muss jede Branche in den nächsten Jahren einen vollständigen Dekarbonisierungsplan entwickeln. Zukünftige Gesetzesänderungen können diese Pläne dann berücksichtigen.

Wo sehen Sie den grössten Hebel zur Senkung der Emissionen?
Von zentraler Bedeutung ist die Umstellung von fossilen Energieträgern auf erneuerbare Energiequellen. Das bedeutet, dass wir in erster Linie auf Wind- und Solarenergie umsteigen müssen. Diese beiden Technologien können genügend Energie liefern, um fossile Brennstoffe zu ersetzen. Da Wind- und Solarenergie allerdings Strom produzieren und nicht wie fossile Energieträger verbrannt werden können, müssen wir möglichst viele Energieanwendungen elektrifizieren.

Es tönt als wäre es gar nicht so schwierig, bis 2050 klimaneutral zu werden ...
Wenn wir alle Verwendungen fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien ersetzen, können wir unsere Emissionen um mehr als 75 Prozent reduzieren. Dann gibt es noch einige komplizierte Sektoren: Für Teile der Industrie und der Luftfahrt brauchen wir andere Lösungen. Hier sind die Technologien aber schon da, wir müssen sie nur noch auf den Markt bringen. Das braucht Zeit, darum ist es gut, dass wir jetzt damit beginnen.

Und was ist mit der Landwirtschaft?
Hier werden wir es wohl nicht schaffen, die Emissionen ganz zu verhindern. Die verbleibenden Emissionen können wir durch sogenannte «negative Emissionen» kompensieren. Dabei wird CO2 aus der Luft entfernt und im Boden gespeichert. Auch hier ist die Technologie gut erforscht, muss aber noch ausgebaut werden.

Warum werden solche Technologien nicht häufiger angewendet? Dann müssten wir weniger Emissionen einsparen.
Das Problem sind die Kosten. Es ist viel teurer, Emissionen der Atmosphäre zu entnehmen als diese einzusparen.

Welche Verantwortung hat ein wohlhabendes Land wie die Schweiz im Kampf gegen den Klimawandel?
Wenn man etwas ausprobiert, was noch nie jemand gemacht hat, macht man ab und zu Fehler. Diese können teuer werden. Deshalb ist es für viele Menschen aus ethischer Perspektive klar, dass die Schweiz eine Vorreiterrolle einnehmen sollte. Wir haben nicht nur den Reichtum, um die Kosten für allfällige Fehler aufzufangen, sondern verfügen auch über die technischen Kapazitäten, um aus diesen Fehlern zu lernen. Von diesen Erfahrungen können dann weniger wohlhabende Länder profitieren.

Und dennoch kann die Schweiz als kleines Land alleine den Klimawandel nicht bremsen.
Das ist so. Tatsächlich müssten alle Länder bis ungefähr 2030 den Netto-Null-Punkt erreichen, wenn wir die Erderwärmung unter 1.5 Grad halten wollen. Weil das allerdings utopisch ist, müssen wir später viele negative Emissionen erzeugen. Oder umgekehrt gesagt: Je früher die Länder das Netto-Null-Ziel erreichen, desto geringer ist die Erwärmung und desto weniger negative Emissionen braucht es.

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