Das Platzangebot für gewaltbetroffene Frauen und Kinder in der Schweiz ist knapp – und die Finanzierung zwischen den Kantonen teilweise ungenügend geregelt. Vergangene Woche hat die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) in der NZZ ihrem Ärger über Nachbarkantone Luft gemacht, die sich in ihren Augen unsolidarisch verhalten. Der Kanton Zürich hat in den letzten Jahren das Platzangebot in Frauenhäusern ausgebaut. Doch rund 40 Prozent der Plätze in Zürcher Schutzunterkünften werden von Frauen und Kindern aus anderen Kantonen belegt.
Das sei doppelt mühsam, so Regierungsrätin Fehr: «Einerseits muss die Zürcher Bevölkerung Plätze bezahlen, die von anderen Kantonen genutzt werden. Andererseits müssen wir dafür Frauen aus Zürich in andere Kantone vermitteln, weil es bei uns keinen Platz für sie gibt.» Zürich habe eigentlich genug Kapazitäten in Frauenhäusern geschaffen, doch wegen des Mangels in anderen Regionen komme es zu einem «Geschacher um Plätze und Bezahlung». Das sei nicht im Sinne der Betroffenen.
Das von Fehr angesprochene Problem ist seit langem bekannt. In der Schweiz und Liechtenstein stehen 216 Zimmer mit 436 Betten für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen und Mädchen an 23 Standorten zur Verfügung. Die Belegung von Frauenhäusern unterliegt naturgemäss starken Schwankungen, doch immer wieder stossen sie an Kapazitätsgrenzen.
Gemäss dem jüngsten Jahresbericht 2023 der Dachorganisation der Frauenhäuser (DAO) entsprechen die Kapazitäten der Schweizer Schutzunterkünfte nicht einmal einem Viertel des Zielwerts von einem Bett pro 100'000 Einwohnerinnen und Einwohnern, den der Europarat empfiehlt. Zum Platzmangel kommen Finanzierungs- und Planungsunsicherheiten hinzu, die vielen Frauenhäusern zu schaffen machen.
Das begrenzte Platzangebot hat Konsequenzen für Gewaltopfer, welche in einem Frauenhaus Schutz suchen. Die Datenlage zu solchen Fällen sei zwar unbefriedigend, sagt Martin Allemann, Fachbereichsleiter bei der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK). Aber es komme immer wieder vor, dass Schutzbedürftige nicht zu ihrer eigenen Sicherheit, sondern allein aus finanziellen Gründen oder wegen Platzmangel in einem Frauenhaus weit entfernt von ihrem Wohnort untergebracht werden müssen.
Sandra Müller Gmünder, Leiterin der Kantonalen Opferhilfestelle in Zürich, erzählt von einer Zürcherin, die man in einem Frauenhaus im Tessin unterbringen musste, weil die eigenen Schutzeinrichtungen und jene in den Nachbarkantonen sie nicht aufnehmen konnten. «Wir finden zwar immer eine Lösung», so Müller Gmünder. Aber für die Betroffenen sei es in vielen Fällen nicht gut, weit weg vom Wohnort untergebracht zu sein. Dies mache die Organisation von neuen Lösungen anspruchsvoller, etwa die Suche nach einer neuen Wohnung. Besonders ungünstig seien solche Situationen für Gewaltbetroffene mit schulpflichtigen Kindern.
Müller Gmünder erläutert die von ihrer obersten Chefin Jacqueline Fehr angesprochene Problematik im Detail. Das mangelnde oder fehlende Angebot in Nachbarkantonen führe dazu, dass Gewaltopfer von dort in Zürcher Frauenhäuser Schutz suchten. Diese stiessen immer wieder an die Kapazitätsgrenzen und somit fehle auch der Platz für Gewaltbetroffene aus dem Kanton Zürich.
Im Gegensatz zu anderen Kantonen habe Zürich in den Leistungsvereinbarungen mit seinen eigenen Frauenhäusern bewusst keine Obergrenze für die Aufnahme ausserkantonaler Gewaltopfer festgeschrieben, so Müller Gmünder: «Das wäre aus unserer Sicht eine fehlgeleitete Massnahme auf dem Buckel der Betroffenen.»
In den eigenen Frauenhäusern bezahle der Kanton Zürich bereits die sogenannten Bereitstellungskosten, die auch dann anfallen, wenn ein Platz nicht oder durch eine Frau aus einem anderen Kanton belegt ist. Diese liessen sich trotz höherer Tarife für ausserkantonale Gewaltopfer nicht vollständig auf deren Herkunftskantone überwälzen. Wenn dann der Kanton Zürich eigene Gewaltbetroffene ausserkantonal unterbringen müsse, weil die eigenen Frauenhäuser voll besetzt sind, so müsse er dort höhere Tarife zahlen. Obwohl er eigentlich seine Hausaufgaben gemacht hat.
Man werte nun die Belegungsdaten der Unterkünfte aus und werde dann das Gespräch mit den benachbarten Kantonen suchen: «Unser Ziel ist es, eine überkantonal koordinierte Angebotsplanung zu machen und ein gerechtes und nachhaltiges Finanzierungsmodell zu finden.»
Diese Ziele gehörten zu den elf Empfehlungen, welche die Sozialdirektorenkonferenz 2021 erlassen hatte. Not- und Schutzunterkünfte für Gewaltbetroffene sollten «künftig auf einer solideren finanziellen Basis stehen und gleichzeitig einen effizienten Betrieb der Angebote gewährleisten». Die SODK forderte die Kantone auf, mittels eines Sockelbeitrags die sogenannten Bereitstellungskosten angemessen abzugelten: «Auch Kantone ohne eigenes Angebot sollen sich an einer solchen Sockelfinanzierung beteiligen.»
Knapp vier Jahre später zeichnet eine Auftragsstudie der SODK vom Oktober 2024 jedoch ein ernüchterndes Bild. Keine der insgesamt elf Empfehlungen sei flächendeckend umgesetzt worden. Bei der Platzierung von gewaltbetroffenen Frauen und ihren Kindern spielten weiterhin nicht nur fachliche, sondern auch finanzielle Kriterien eine Rolle, heisst es im Fazit der Studie. Knapp 40 Prozent der befragten Frauenhäuser geben zudem an, die Nachhaltigkeit der eigenen Finanzierung sei «nicht ausreichend».
Im neunköpfigen Vorstand der Sozialdirektorenkonferenz ist die Solothurner Regierungsrätin Susanne Schaffner (SP) fürs Dossier Opferhilfe zuständig. «Die Studie hat gezeigt, dass es sowohl über das Angebot als auch über die Finanzierungsregeln weitere Diskussionen braucht», sagt Schaffner. Die SODK hat deshalb eine Arbeitsgruppe auf Fachebene eingesetzt, um Vorschläge auszuarbeiten.
Wichtig sei es, auf der Angebotsseite weitere Plätze im richtigen Bereich zu schaffen. Vielerorts fehle es an Anschlusslösungen für Frauen und Familien, die nach einer akuten Notsituation nicht mehr auf einen Platz in einem Frauenhaus, sondern in einem anderen Setting angewiesen wären. Hier würden neue Angebote die Kapazitätsengpässe der Frauenhäuser entschärfen.
Den Unmut aus Zürich will Schaffner nicht kommentieren. Sie sagt: «Die Ausgangslage ist je nach Kanton verschieden. Für mich ist klar, dass es einen Austausch und gemeinsame Anstrengungen für eine gute Lösung braucht.»
Am Freitag endet die Vernehmlassung zur Teilrevision des Opferhilfegesetzes (OHG). Im Zentrum steht dabei der verbesserte Zugang zu medizinischer Hilfe und rechtsmedizinischer Dokumentation für Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt. Doch in seiner Stellungnahme zuhanden des Bundesrats plädiert der Vorstand der SODK dafür, die Vorlage um einen weiteren Artikel zu ergänzen. Sein Inhalt: Die Kantone müssten sicherstellen, dass Opfer «Zugang zu Schutz- und Notunterkünften sowie zu Angeboten an Anschlusslösungen» haben.
Leider sei es weiterhin nicht selbstverständlich, dass die benötigten Mittel zum Schutz von Opfern häuslicher und sexueller Gewalt bewilligt werden, sagt die Solothurner Regierungsrätin Susanne Schaffner. Ein entsprechender Passus in einem Bundesgesetz könne ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Politik sein: «Das wäre auch eine Hilfeleistung für meine Kolleginnen und Kollegen in den kantonalen Sozialdirektionen, sich hier Gehör zu verschaffen.»