Während die meisten Menschen an diesem Freitagnachmittag bereits an das Wochenende denken, kommt Ariane Stocklin – besser bekannt als Schwester Ariane – erst um halb vier dazu, zu Mittag zu essen. Im Stehen. «Momentan haben wir wahnsinnig viel zu tun», sagt sie zu watson. Über der geistlichen Kleidung trägt sie einen Kapuzenpullover, unter dem Saum ihres Rockes schauen Turnschuhe hervor.
Der Abend beginnt beim Lokal «Primero», dem von Schwester Arianes Verein Incontro gegründeten Café für bedürftige Menschen. Es ist die erste Station einer Tour, die sie bis Mitternacht beschäftigen wird.
Das «Primero» ist ein kleiner, schlauchförmiger Raum, farbenfroh eingerichtet und dekoriert. Es dient als Café, Büro, Kapelle und Veranstaltungsort zugleich. «Eigentlich ist es viel zu klein», meint Schwester Ariane, während sie auf einem Tablett eine Tasse Kaffee zu einem Gast balanciert.
Das Café ist an diesem Nachmittag gut besucht. Sanfte Klaviermusik klingt aus einer Musikbox durch das Lokal. Die angenehme Atmosphäre täuscht beinahe darüber hinweg, dass ein Café-Besuch für die Gäste des «Primero» keine Selbstverständlichkeit ist.
Der frisch zubereitete Kaffee und das dazu servierte Gebäck sind ein Luxus, den sich viele hier nicht leisten können. Zu den «Gästen und Freunden», wie Karl Wolf und Schwester Ariane die Besucherinnen und Besucher des Cafés nennen, zählen Obdachlose, Drogenkranke oder Menschen aus dem Milieu sowie Geflüchtete oder ausländische Saisonarbeitskräfte.
Im «Primero» bedient der Verein Incontro alle umsonst, persönliche Gespräche sind Teil des Konzepts. Hier können die Menschen ausserdem ihre Handys aufladen, sich in der Schlafecke ausruhen, sich aufwärmen.
Schwester Ariane ist diplomierte Theologin, psychologische Beraterin und Nonne. Sie hat den Verein Incontro vor über zwanzig Jahren ins Leben gerufen und leitet ihn mit dem Küsnachter Pfarrer und Psychoanalytiker Karl Wolf. Gassenarbeit im Zürcher Langstrassenquartier betreiben sie seit sieben Jahren. Schwester Ariane bezieht nur das als Lohn, was sie gerade so zum Leben braucht, Wolf arbeitet ehrenamtlich.
Wie es ist, obdachlos zu sein, weiss auch Markus*, der mit einem Bekannten an einem der kleinen Tische sitzt. Der 66-Jährige hat bis vor zehn Jahren noch bei einer Bank gearbeitet. Eine Depression riss ihm den Boden unter den Füssen weg. Er verlor seine Arbeit, später sein Zuhause. Heute hat er wieder ein Dach über dem Kopf, im Winter kommt er für etwas Abwechslung allerdings noch immer ins «Primero».
Er schätzt die Arbeit des Vereins, sagt aber: «Ich würde lieber nicht mehr kommen.» Nicht mehr hierherkommen, das würde bedeuten, dass er es geschafft hätte, wieder richtig Fuss zu fassen.
Im Raum der Stille, der durch eine Glaswand vom restlichen Raum abgetrennt wird, sitzt ein Mann mit gesenktem Kopf und Rosenkranz in der Hand. Neben ihm thront eine Marienstatue.
Verschiedene katholische Kirchgemeinden und der Churer Bischof unterstützen den Verein Incontro. Schwester Ariane und Karl Wolf betonen jedoch, dass sie mit ihrem sozialen Engagement nicht missionieren wollen. Sie seien offen für Menschen jeder Religion und Weltanschauung.
Die Vielfalt der Menschen, die ins Café oder zur Essensausgabe kommen, stellt den Verein auch vor Herausforderungen: Schwester Ariane und Karl Wolf beobachten in den letzten Monaten eine Zuspitzung der Gewalt und Aggression – auf der Gasse, im Milieu und gegen sie selbst. Kürzlich habe jemand ein Messer bei der Essensausgabe gezückt. «Dieses Ausmass an Gewalt ist neu», bemerkt Schwester Ariane.
Die instabile Weltlage, Kriegstraumata, Wohnungsknappheit oder unbehandelte psychische Krankheiten, das alles mache sich bemerkbar.
Nachdem Schwester Ariane die Gäste mit Gesprächen und Kaffee versorgt hat, folgt für sie die nächste Station des Abends: die kostenlose Essensausgabe bei der Europaallee. Auf dem Weg rufen mehrere Personen Schwester Ariane über die Strasse hinweg zu. Sie grüsst zurück, kennt viele mit Namen.
200 bis 400 Leute pro Tag nutzen die «Gassenmensa», die der Verein Incontro seit der Coronapandemie anbietet. Hier, zwischen den Zuggleisen und der Europaallee, verteilen Freiwillige jeden Abend gratis Lebensmittel und warme Mahlzeiten. Der Kontrast ist gross: Zwischen luxuriösen Firmengebäuden, modernen Fitnessstudios und schicken Restaurants stehen Abend für Abend Menschen für ein paar Lebensmittel an.
Die Menschen kommen warm eingepackt, mit Einkaufswagen und leeren Taschen ausgerüstet. Hinter den strahlenden Neubauten der Europaallee bildet sich ab 18 Uhr eine Schlange, die sich über zwei Häuserblocks zieht.
Nach und nach stellen sich Familien, junge und ältere Menschen an, schnellen Schrittes schliessen sie zur Schlange auf. Einige sind allein, tragen Kopfhörer oder lesen. Andere kommen in Grüppchen, unterhalten sich oder stehen schweigend da.
Auf bunten Ikea-Hockern sitzen drei ältere Frauen in der Schlange und unterhalten sich auf Italienisch. Sie wohnen in Alterswohnungen im Quartier und kommen oft zur «Gassenmensa». Wenn sich die Schlange bewegt, rücken sie mit ihren Hockern ein Stück weiter vor. Eine Stunde später sind sie vorn angelangt.
Dort erwarten sie ein Dutzend Freiwillige. Aus Wägelchen, gefüllt mit Hygieneartikeln, Socken und Esswaren, können sie sich jeweils etwas aussuchen. Läden und Bäckereien haben die Sachen gespendet. Vermicelles, Bouillon, Bodylotion stehen an diesem Abend unter anderem zur Auswahl. Zum Schluss gibt es eine warme Mahlzeit, verpackt zum Mitnehmen. Als eine der älteren Frauen an der Reihe ist, fragt sie: «Hat es Pasta?»
Dass die Menschen selbst auswählen dürfen und die Lebensmittel nicht einfach verteilt würden, habe einen Zweck, sagt Schwester Ariane.
Für die Leute, die zu ihnen kommen, sei es wichtig, eine Wahlmöglichkeit zu haben, ein Stück Selbstbestimmung.
Das an die Essensausgabe angrenzende 25-Hours-Hotel liefert warme Mahlzeiten und stellt dem Verein seinen Keller zur Verfügung, um Material zu lagern. Einige Anwohnerinnen würden ausserdem selbst als Freiwillige mithelfen.
Insgesamt 1300 Freiwillige stehen zurzeit auf der Liste des Vereins. Einige kommen mehrmals pro Woche. Darunter sind Arbeitstätige, Pensionierte oder IV-Beziehende.
Als die Schlange gegen halb neun kürzer wird, sind die Wägelchen der Helferinnen und Helfer fast leer. In Windeseile räumen die Freiwilligen alles zusammen. Denn für einige von ihnen ist der Abend hiermit noch nicht vorbei.
Um 21 Uhr teilt sich die Gruppe erneut auf. Schwester Ariane und Karl Wolf werden gleich mit einer kleinen Gruppe zur letzten Station des Abends aufbrechen: einer Kontaktbar an der Langstrasse, in der sich Freier und Sexarbeitende treffen.
Bevor sie mit fünf Freiwilligen zum Bordell an der Langstrasse gehen, briefen Karl Wolf und Schwester Ariane die Gruppe. An diesem Tag hilft auch der Generalvikar, der Stellvertreter des Churer Bischofs, mit.
Seit der Coronapandemie besuchen Schwester Ariane und Karl Wolf regelmässig verschiedene Bordelle an der Langstrasse, um Beziehungen zu den Frauen und Männern im Milieu aufzubauen, sagt Schwester Ariane. Sie sprechen von «Frauen und Männern im Milieu», nicht von Sexarbeitenden. Der Begriff der Sexarbeit impliziere für sie, dass es sich um eine Arbeit wie jede andere handle. Das lehnen sie ab.
Einige kämen auch in das «Primero» für das Abendessen oder die Messe am Sonntag. «Die Leute im Milieu und auf der Gasse sind sehr religiös», sagt Karl Wolf.
Karl Wolf erzählt der Gruppe von Menschenhandel, von Zwang und Gewalt. «Viele sind nicht freiwillig da.» Frauen aus Lateinamerika, Westafrika oder Osteuropa würden zum Teil unter falschen Versprechungen angeworben.
Insgesamt hätten die Gefahren für die Frauen zugenommen, sagt Schwester Ariane. «Die Frauen erzählen uns zum Beispiel, dass viele Freier keine Kondome benutzen wollen.» Trotzdem verteilt Incontro – anders als andere Hilfsorganisationen – an der Zürcher Langstrasse keine Kondome.
Das erstaunt, da Gesundheitsprävention bei Anlauf- und Beratungsstellen für Sexarbeitende einen wichtigen Grundsatz darstellt – insbesondere der Schutz vor übertragbaren Krankheiten durch Verhütung. Schwester Ariane rechtfertigt das so: «Diese Unterstützung erhalten sie schon von anderen Organisationen. Wir haben andere Schwerpunkte für unsere Arbeit gesetzt.» Karl Wolf fügt an: «Wir versuchen, nicht das System, sondern die Frauen zu stützen.»
Die Frage, was die Frauen besser schützt, ist damit nicht beantwortet.
Allen Beteuerungen, dass der Verein keinen missionarischen Ansatz verfolgt, zum Trotz: Der Umgang mit Verhütungsmitteln deutet an, dass der katholische Hintergrund von Incontro für die Gassenarbeit dennoch eine Rolle spielt.
Am späten Abend, gegen 23 Uhr, setzen sich Schwester Ariane und Karl Wolf nochmals an einen Tisch im leeren «Primero». Die Tour ist zu Ende, es ist der erste Moment seit Stunden, in dem sie sich hinsetzen und etwas trinken.
Wie erholen sie sich? «Ich versuche, auf meinen Schlaf zu achten», sagt Schwester Ariane. Sie meditiere jeden Morgen. Sonst würde sie es nicht schaffen.
Weder Wolf noch Schwester Ariane finden, dass ihre Arbeit eine Aufgabe der öffentlichen Hand sein sollte: «Ich erwarte nicht, dass die Stadt für alle sozialen Probleme eine Lösung parat hat», sagt Wolf dazu. Die Stadt solle allerdings für eine «humanitäre Grundausstattung» sorgen. Sie solle die Schwächsten der Gesellschaft, also Menschen, die arm, krank oder alt sind, besonders im Blick haben.
Was treibt sie und die Freiwilligen an, jeden Abend auf die Gasse zu gehen? «Wir, die hier arbeiten, müssen unsere Motive differenziert für uns selbst durchleuchten können», sagt Wolf.
Dasselbe besprächen sie jeweils mit den Freiwilligen, die ihrerseits aus unterschiedlichen Gründen kommen würden. «Alle wollen etwas Gutes tun. Einige behandeln ihre eigene Not, indem sie anderen helfen. Sie fühlen sich gut, wenn sie Gutes tun.»
Es ist fast Mitternacht, als sich Schwester Ariane und Karl Wolf auf den Heimweg machen. Beide müssen am nächsten Morgen wieder früh raus. Und am Abend werden sie wieder am Gleis bei der Europaallee stehen.
Für deinen Einsatz liebe Ariane zu Gunsten von Obdachlosen, Drogenkranken oder Menschen aus dem Milieu sage ich einfach:
Merci via mou ❤️!
Herzlichen Dank für Ihren nimmermüden Einsatz!