Schweiz
Leben

Ein Abend mit Schwester Ariane: «Das Ausmass der Gewalt ist neu»

Essensausgabe Incontro, Menschen warten in der Schlange, 20. Dezember 2024
Menschen stehen bei der Essensausgabe an der Europaallee für Lebensmittel und eine warme Mahlzeit an. Bild: watson

«Das Ausmass der Gewalt ist neu» – ein Abend mit Schwester Ariane im Langstrassenquartier

Schwester Ariane und ihr Team sind auch in den kalten Wintermonaten jeden Abend im Zürcher Langstrassenquartier unterwegs. watson hat sie einen Abend lang begleitet – von der Essensausgabe bis ins Bordell.
12.01.2025, 05:46
Mehr «Schweiz»

Während die meisten Menschen an diesem Freitagnachmittag bereits an das Wochenende denken, kommt Ariane Stocklin – besser bekannt als Schwester Ariane – erst um halb vier dazu, zu Mittag zu essen. Im Stehen. «Momentan haben wir wahnsinnig viel zu tun», sagt sie zu watson. Über der geistlichen Kleidung trägt sie einen Kapuzenpullover, unter dem Saum ihres Rockes schauen Turnschuhe hervor.

Der Abend beginnt beim Lokal «Primero», dem von Schwester Arianes Verein Incontro gegründeten Café für bedürftige Menschen. Es ist die erste Station einer Tour, die sie bis Mitternacht beschäftigen wird.

Im «Primero»: Kaffee und Kuchen für alle

Das «Primero» ist ein kleiner, schlauchförmiger Raum, farbenfroh eingerichtet und dekoriert. Es dient als Café, Büro, Kapelle und Veranstaltungsort zugleich. «Eigentlich ist es viel zu klein», meint Schwester Ariane, während sie auf einem Tablett eine Tasse Kaffee zu einem Gast balanciert.

Das Café ist an diesem Nachmittag gut besucht. Sanfte Klaviermusik klingt aus einer Musikbox durch das Lokal. Die angenehme Atmosphäre täuscht beinahe darüber hinweg, dass ein Café-Besuch für die Gäste des «Primero» keine Selbstverständlichkeit ist.

Das «Primero» des Vereins Incontro von aussen.
Von aussen unscheinbar: das Lokal «Primero» an der Müllerstrasse in Zürich. Bild: watson

Der frisch zubereitete Kaffee und das dazu servierte Gebäck sind ein Luxus, den sich viele hier nicht leisten können. Zu den «Gästen und Freunden», wie Karl Wolf und Schwester Ariane die Besucherinnen und Besucher des Cafés nennen, zählen Obdachlose, Drogenkranke oder Menschen aus dem Milieu sowie Geflüchtete oder ausländische Saisonarbeitskräfte.

Im «Primero» bedient der Verein Incontro alle umsonst, persönliche Gespräche sind Teil des Konzepts. Hier können die Menschen ausserdem ihre Handys aufladen, sich in der Schlafecke ausruhen, sich aufwärmen.

Schwester Ariane ist diplomierte Theologin, psychologische Beraterin und Nonne. Sie hat den Verein Incontro vor über zwanzig Jahren ins Leben gerufen und leitet ihn mit dem Küsnachter Pfarrer und Psychoanalytiker Karl Wolf. Gassenarbeit im Zürcher Langstrassenquartier betreiben sie seit sieben Jahren. Schwester Ariane bezieht nur das als Lohn, was sie gerade so zum Leben braucht, Wolf arbeitet ehrenamtlich.

Lokal Primero des Vereins Incontro, 20. Dezember 2024
Das leere Lokal zu später Stunde, als die Tour bereits zu Ende ist. Bild: watson

Wie es ist, obdachlos zu sein, weiss auch Markus*, der mit einem Bekannten an einem der kleinen Tische sitzt. Der 66-Jährige hat bis vor zehn Jahren noch bei einer Bank gearbeitet. Eine Depression riss ihm den Boden unter den Füssen weg. Er verlor seine Arbeit, später sein Zuhause. Heute hat er wieder ein Dach über dem Kopf, im Winter kommt er für etwas Abwechslung allerdings noch immer ins «Primero».

Er schätzt die Arbeit des Vereins, sagt aber: «Ich würde lieber nicht mehr kommen.» Nicht mehr hierherkommen, das würde bedeuten, dass er es geschafft hätte, wieder richtig Fuss zu fassen.

Im Raum der Stille, der durch eine Glaswand vom restlichen Raum abgetrennt wird, sitzt ein Mann mit gesenktem Kopf und Rosenkranz in der Hand. Neben ihm thront eine Marienstatue.

Verschiedene katholische Kirchgemeinden und der Churer Bischof unterstützen den Verein Incontro. Schwester Ariane und Karl Wolf betonen jedoch, dass sie mit ihrem sozialen Engagement nicht missionieren wollen. Sie seien offen für Menschen jeder Religion und Weltanschauung.

Der Raum der Stille beim Verein Incontro
Der Raum der Stille im «Primero». Bild: watson

Die Vielfalt der Menschen, die ins Café oder zur Essensausgabe kommen, stellt den Verein auch vor Herausforderungen: Schwester Ariane und Karl Wolf beobachten in den letzten Monaten eine Zuspitzung der Gewalt und Aggression – auf der Gasse, im Milieu und gegen sie selbst. Kürzlich habe jemand ein Messer bei der Essensausgabe gezückt. «Dieses Ausmass an Gewalt ist neu», bemerkt Schwester Ariane.

«Die Menschen stehen unter grossem Druck.»
Schwester Ariane

Die instabile Weltlage, Kriegstraumata, Wohnungsknappheit oder unbehandelte psychische Krankheiten, das alles mache sich bemerkbar.

Nachdem Schwester Ariane die Gäste mit Gesprächen und Kaffee versorgt hat, folgt für sie die nächste Station des Abends: die kostenlose Essensausgabe bei der Europaallee. Auf dem Weg rufen mehrere Personen Schwester Ariane über die Strasse hinweg zu. Sie grüsst zurück, kennt viele mit Namen.

Schwester Ariane vom Verein Incontro
Schwester Ariane und zwei Freiwillige auf dem Weg zur «Gassenmensa».Bild: watson

«Gassenmensa»: Essensausgabe unter freiem Himmel

200 bis 400 Leute pro Tag nutzen die «Gassenmensa», die der Verein Incontro seit der Coronapandemie anbietet. Hier, zwischen den Zuggleisen und der Europaallee, verteilen Freiwillige jeden Abend gratis Lebensmittel und warme Mahlzeiten. Der Kontrast ist gross: Zwischen luxuriösen Firmengebäuden, modernen Fitnessstudios und schicken Restaurants stehen Abend für Abend Menschen für ein paar Lebensmittel an.

Die Menschen kommen warm eingepackt, mit Einkaufswagen und leeren Taschen ausgerüstet. Hinter den strahlenden Neubauten der Europaallee bildet sich ab 18 Uhr eine Schlange, die sich über zwei Häuserblocks zieht.

Nach und nach stellen sich Familien, junge und ältere Menschen an, schnellen Schrittes schliessen sie zur Schlange auf. Einige sind allein, tragen Kopfhörer oder lesen. Andere kommen in Grüppchen, unterhalten sich oder stehen schweigend da.

Auf bunten Ikea-Hockern sitzen drei ältere Frauen in der Schlange und unterhalten sich auf Italienisch. Sie wohnen in Alterswohnungen im Quartier und kommen oft zur «Gassenmensa». Wenn sich die Schlange bewegt, rücken sie mit ihren Hockern ein Stück weiter vor. Eine Stunde später sind sie vorn angelangt.

Dort erwarten sie ein Dutzend Freiwillige. Aus Wägelchen, gefüllt mit Hygieneartikeln, Socken und Esswaren, können sie sich jeweils etwas aussuchen. Läden und Bäckereien haben die Sachen gespendet. Vermicelles, Bouillon, Bodylotion stehen an diesem Abend unter anderem zur Auswahl. Zum Schluss gibt es eine warme Mahlzeit, verpackt zum Mitnehmen. Als eine der älteren Frauen an der Reihe ist, fragt sie: «Hat es Pasta?»

Essensausgabe Verein Incontro
Hier ist noch alles ruhig: Kurz vor 18 Uhr bauen die Freiwilligen die Essensausgabe auf. Bild: watson

Dass die Menschen selbst auswählen dürfen und die Lebensmittel nicht einfach verteilt würden, habe einen Zweck, sagt Schwester Ariane.

«Oft hört man: Wenn du arm bist, musst du alles nehmen. Aber wenn wir in den Coop oder in die Migros gehen, suchen wir uns ja auch gerne selbst etwas aus.»
Schwester Ariane

Für die Leute, die zu ihnen kommen, sei es wichtig, eine Wahlmöglichkeit zu haben, ein Stück Selbstbestimmung.

Das an die Essensausgabe angrenzende 25-Hours-Hotel liefert warme Mahlzeiten und stellt dem Verein seinen Keller zur Verfügung, um Material zu lagern. Einige Anwohnerinnen würden ausserdem selbst als Freiwillige mithelfen.

Insgesamt 1300 Freiwillige stehen zurzeit auf der Liste des Vereins. Einige kommen mehrmals pro Woche. Darunter sind Arbeitstätige, Pensionierte oder IV-Beziehende.

Als die Schlange gegen halb neun kürzer wird, sind die Wägelchen der Helferinnen und Helfer fast leer. In Windeseile räumen die Freiwilligen alles zusammen. Denn für einige von ihnen ist der Abend hiermit noch nicht vorbei.

Um 21 Uhr teilt sich die Gruppe erneut auf. Schwester Ariane und Karl Wolf werden gleich mit einer kleinen Gruppe zur letzten Station des Abends aufbrechen: einer Kontaktbar an der Langstrasse, in der sich Freier und Sexarbeitende treffen.

Besuch im Bordell: Ohne Kondome an der Langstrasse

Bevor sie mit fünf Freiwilligen zum Bordell an der Langstrasse gehen, briefen Karl Wolf und Schwester Ariane die Gruppe. An diesem Tag hilft auch der Generalvikar, der Stellvertreter des Churer Bischofs, mit.

Seit der Coronapandemie besuchen Schwester Ariane und Karl Wolf regelmässig verschiedene Bordelle an der Langstrasse, um Beziehungen zu den Frauen und Männern im Milieu aufzubauen, sagt Schwester Ariane. Sie sprechen von «Frauen und Männern im Milieu», nicht von Sexarbeitenden. Der Begriff der Sexarbeit impliziere für sie, dass es sich um eine Arbeit wie jede andere handle. Das lehnen sie ab.

Einige kämen auch in das «Primero» für das Abendessen oder die Messe am Sonntag. «Die Leute im Milieu und auf der Gasse sind sehr religiös», sagt Karl Wolf.

Menschen bewegen sich auf der Langstrasse in Zuerich, aufgenommen am Samstag, 30. September 2023. Ab November 2023 wird die Langstrasse tagsueber autofrei. Zwischen Militaerstrasse und Helvetiaplatz d ...
An der Zürcher Langstrasse kommen Party und Milieu zusammen.Bild: KEYSTONE

Karl Wolf erzählt der Gruppe von Menschenhandel, von Zwang und Gewalt. «Viele sind nicht freiwillig da.» Frauen aus Lateinamerika, Westafrika oder Osteuropa würden zum Teil unter falschen Versprechungen angeworben.

Insgesamt hätten die Gefahren für die Frauen zugenommen, sagt Schwester Ariane. «Die Frauen erzählen uns zum Beispiel, dass viele Freier keine Kondome benutzen wollen.» Trotzdem verteilt Incontro – anders als andere Hilfsorganisationen – an der Zürcher Langstrasse keine Kondome.

Das erstaunt, da Gesundheitsprävention bei Anlauf- und Beratungsstellen für Sexarbeitende einen wichtigen Grundsatz darstellt – insbesondere der Schutz vor übertragbaren Krankheiten durch Verhütung. Schwester Ariane rechtfertigt das so: «Diese Unterstützung erhalten sie schon von anderen Organisationen. Wir haben andere Schwerpunkte für unsere Arbeit gesetzt.» Karl Wolf fügt an: «Wir versuchen, nicht das System, sondern die Frauen zu stützen.»

Die Frage, was die Frauen besser schützt, ist damit nicht beantwortet.

Allen Beteuerungen, dass der Verein keinen missionarischen Ansatz verfolgt, zum Trotz: Der Umgang mit Verhütungsmitteln deutet an, dass der katholische Hintergrund von Incontro für die Gassenarbeit dennoch eine Rolle spielt.

Fast Feierabend: Die Not der Helfenden

Am späten Abend, gegen 23 Uhr, setzen sich Schwester Ariane und Karl Wolf nochmals an einen Tisch im leeren «Primero». Die Tour ist zu Ende, es ist der erste Moment seit Stunden, in dem sie sich hinsetzen und etwas trinken.

Wie erholen sie sich? «Ich versuche, auf meinen Schlaf zu achten», sagt Schwester Ariane. Sie meditiere jeden Morgen. Sonst würde sie es nicht schaffen.

«Man muss schauen, dass man bei Kräften bleibt.»
Schwester Ariane

Weder Wolf noch Schwester Ariane finden, dass ihre Arbeit eine Aufgabe der öffentlichen Hand sein sollte: «Ich erwarte nicht, dass die Stadt für alle sozialen Probleme eine Lösung parat hat», sagt Wolf dazu. Die Stadt solle allerdings für eine «humanitäre Grundausstattung» sorgen. Sie solle die Schwächsten der Gesellschaft, also Menschen, die arm, krank oder alt sind, besonders im Blick haben.

Schwester Ariane und Karl Wolf vom Verein Incontro im Lokal Primero. 20. Dezember 2024.
Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf leiten den Verein Incontro gemeinsam.Bild: watson

Was treibt sie und die Freiwilligen an, jeden Abend auf die Gasse zu gehen? «Wir, die hier arbeiten, müssen unsere Motive differenziert für uns selbst durchleuchten können», sagt Wolf.

«Wir müssen uns unserer Motivation, warum wir helfen, sehr bewusst sein.»
Karl Wolf

Dasselbe besprächen sie jeweils mit den Freiwilligen, die ihrerseits aus unterschiedlichen Gründen kommen würden. «Alle wollen etwas Gutes tun. Einige behandeln ihre eigene Not, indem sie anderen helfen. Sie fühlen sich gut, wenn sie Gutes tun.»

Es ist fast Mitternacht, als sich Schwester Ariane und Karl Wolf auf den Heimweg machen. Beide müssen am nächsten Morgen wieder früh raus. Und am Abend werden sie wieder am Gleis bei der Europaallee stehen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Diese Obdachlosen haben vermutlich ihr Haus verloren – nicht aber ihren Humor
1 / 23
Diese Obdachlosen haben vermutlich ihr Haus verloren – nicht aber ihren Humor
Helft diesem armen Mann! Bild: pinterest
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Ab wann gilt man in der Schweiz eigentlich als arm?
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
210 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Glücklich
12.01.2025 06:37registriert August 2022
‚Schwester Ariane ist diplomierte Theologin, psychologische Beraterin und Nonne. Sie hat den Verein Incontro vor über zwanzig Jahren ins Leben gerufen und leitet ihn‘

Für deinen Einsatz liebe Ariane zu Gunsten von Obdachlosen, Drogenkranken oder Menschen aus dem Milieu sage ich einfach:

Merci via mou ❤️!
36713
Melden
Zum Kommentar
avatar
Sam1984
12.01.2025 07:06registriert Dezember 2014
Ich war einmal bei der Essensausgabe dabei, da ich Jemanden kenne der im Verein mithilft. War eine spezielle Erfahrung. Schön, dass es noch Menschen gibt, die anderen helfen.
2489
Melden
Zum Kommentar
avatar
Badener
12.01.2025 06:58registriert März 2017
Bin beeindruckt.
Herzlichen Dank für Ihren nimmermüden Einsatz!
2088
Melden
Zum Kommentar
210
    «Bring dich um, Al» – KI-Chatbot fordert Nutzer zum Suizid auf

    Sie werden immer besser: Personalisierte Chatbots, die auf Künstlicher Intelligenz beruhen, spielen die Rolle einer virtuellen Beziehungsperson mit zunehmender Perfektion. Es kommt sogar vor, dass sich Nutzerinnen oder Nutzer in ihren KI-Freund verlieben. So problematisch dies erscheinen mag – es ist harmlos im Vergleich zu Fällen, in denen Chatbots ihren Nutzern vorschlagen, sich umzubringen.

    Zur Story