Zürich sieht sich in vielen Bereichen an der Spitze. Beim ÖV stimmt es auch. Vor der Coronakrise wurden 41 Prozent der Wege in der Stadt mit Bahn, Bus und Tram zurückgelegt - ein Wert, den keine andere Schweizer oder europäische Grossstadt erreicht. Selbst im weltweiten Vergleich steht Zürich vorne, geschlagen nur von Metropolen wie Hongkong oder Singapur.
Die blau-weissen Busse und Trams sind den Einwohnerinnen und Einwohnern heilig. Als die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) Anfang Monat bekannt geben mussten, dass wegen Personalmangel nächstes Jahr der Takt am Abend ausgedünnt wird, kochte die Volksseele: Von einem «Armutszeichen» und einer «Katastrophe» schrieben Leserinnen und Leser des «Tages-Anzeigers»: «So machen wir den ÖV kaputt!».
Doch die Ursachen sollten auch andere Städte interessieren. Denn in Zürich braut sich ein Cocktail aus Fachkräftemangel, Stress, Spardruck und links-grüner Verkehrspolitik zusammen, der noch vielen Städten verabreicht werden könnte.
Dass künftig Trams und Busse in Zürich ab 20.30 Uhr nur noch im 15-Minuten-Takt statt bis mindestens 22.30 Uhr alle 10 Minuten verkehren, begründen die VBZ mit dem Fachkräftemangel und Absenzen. Pro Tag fehlten zum Teil über 100 der 1700 Mitarbeitenden im Fahrdienst, sagte Direktor Marco Lüthi dem SRF. Mit den Massnahmen können 20 Dienste pro Tag gespart werden, was werktags 3 Prozent aller Dienste entspricht.
Doch warum melden sich die Mitarbeitenden immer häufiger krank? Corona-Erkrankungen dürften weiterhin eine Rolle spielen, genauso wie die belastende Arbeit in der Nacht. Auch lange Schichten, die mit Pausen zwischendurch bis zu 14 Stunden dauern, schlagen auf die Gesundheit. Der Anteil der langen Dienstschichten wurde laut VBZ immerhin bereits von 5 auf 2 Prozent reduziert.
Wichtiger noch ist der zunehmende Stress. Der Verkehr in den Städten ist dicht. Autos, Velos, Fussgänger: Auf alles müssen die Mitarbeitenden vorbereitet sein. Zuletzt sind neue Stressfaktoren hinzugekommen. Regelmässig genannt werden in Gesprächen mit Mitarbeitenden E-Scooter, aber auch der Wegfall von eigenen Spuren für Busse und Trams.
Die Stadt Zürich hat in den letzten Jahren mehr sogenannte Eigentrassen für den ÖV abgebaut als neue geschaffen – meist, um Velospuren zu ermöglichen. Zwischen 2013 und 2022 verschwanden ohne Berücksichtigung von Netzerweiterungen netto 1.1 Kilometer Bus- und Tramspuren. Die Veloförderung verfolgen viele Städte. Bern hat das Ziel ausgegeben, «Velohauptstadt» zu werden. Der Bundesstadt scheint das allerdings zu gelingen, ohne den den ÖV zu behindern.
In Zürich hingegen fluchen VBZ-Mitarbeitende über die Verkehrspolitik, wie sich bei einem Gespräch mit einer Gruppe von Busfahrern zeigt. Als neuestes Beispiel nennen sie die Langstrasse. Durch diese fährt die Buslinie 32. Vor kurzem hat die Stadt sie für Velofahrende umgebaut. Tagsüber gilt nun ein Fahrverbot für Autos. Ab 22 Uhr allerdings dürfen diese neu auch in Gegenrichtung durch die Strasse fahren. Weil die separate Busspur geopfert wurde, stehen die Busse jetzt im Stau. Die Busfahrerinnen und -fahrer können den Fahrplan besonders am Wochenende nicht mehr einhalten. Sie sind konsterniert. «Gerade an der Langstrasse will man abends nicht im Stau stehen», sagt einer.
Um solche Probleme zu entschärfen, braucht es noch mehr Busse und mehr Personal, das sowieso fehlt. Dasselbe gilt für die Einführung von Tempo 30, die oft einen Mehrbedarf an Personal und Fahrzeugen auslöst. Finanzieren müsste das der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV), der Regierungsrätin Carmen Walker Späh (FDP) untersteht. Er bezahlt im Kanton Zürich die Aufwände aller Verkehrsbetriebe. Mehrausgaben für städtische links-grüne Verkehrspolitik, die keinen ÖV-Ausbau ermöglichen, haben bei ihm aber einen eher schweren Stand.
Sowieso will der ZVV die Effizienz erhöhen. Darin sieht Duri Beer von der Gewerkschaft VPOD ein grosses Problem. In den letzten Jahren sei der VBZ-Fahrplan auf Druck des ZVV zusehends optimiert worden, sagt er – «und zwar aus betriebswirtschaftlicher Perspektive». Kurse seien eingespart, Wendezeiten und Reserven abgebaut worden. «Das bedeutet für das Fahrpersonal zusätzlichen Stress.»
Der ZVV mache Druck auf die VBZ mit Zielvereinbarungen und Effizienzvorgaben. Der Schlüssel zur Lösung des Problems liege bei ihm: Er müsse mehr Ressourcen zugestehen. «Eine 38-Stunden-Woche etwa würde dafür sorgen, dass nicht mehr so viele Mitarbeitende die VBZ wegen Stress verlassen, sondern im Beruf bleiben.»
Nur: Im Vergleich aller Betriebe des ZVV sind die VBZ eher teuer. ZVV-Sprecher Thomas Kellenberger winkt deshalb ab: Mehr Personalkosten zu entschädigen hätte zur Folge, dass sich die Wirtschaftlichkeit der VBZ weiter verschlechtern würde, sagt er. Der ZVV sei von Gesetzes wegen zu wirtschaftlichem Handeln verpflichtet. Er sei sich bewusst, dass dies eine Herausforderung für die Betriebe sein könne. Deshalb räume er genügend Zeit für die Umsetzung von Massnahmen ein.
Der Spardruck ist kein exklusives Zürcher Phänomen. Die Coronakrise hat in den Kantonen ein Loch in die ÖV-Kasse gerissen. Der Bund kürzt gleichzeitig die Mittel für den regionalen ÖV ab nächstem Jahr - und die Preise für Energie und Personal sind gestiegen. Deshalb wird ab Ende Dezember auch in der Stadt Luzern auf gewissen Buslinien das Angebot reduziert. «Gerade noch verkraftbar» sei das, warnt diese.
In Zürich betont der ZVV, die Kürzung habe nichts mit finanziellen Vorgaben zu tun. Die nun ausfallenden Kurse finanziere der ZVV aber nicht, womit sich das Defizit «ein bisschen verringern» dürfte. Der ZVV habe von den VBZ Massnahmen zur Verbesserung der Personalsituation eingefordert und erwarte, dass der Fahrplan so rasch wie möglich wieder vollständig angeboten werden könne.
Der Fachkräftemangel lässt sich allerdings damit nicht beheben. Die VBZ sind zwar zuversichtlich, dass sie den Sollbestand im nächsten Jahr wieder erreichen. Auch die Anstellungsbedingungen sollen weiter verbessert werden - etwa mit einem Ausbau der individuellen Schichtplanung, aber auch mit kleineren Massnahmen. So dürfen Mitarbeitende neu im Cockpit im Rahmen eines Pilotprojekts Radio hören.
Dennoch herrsche auf absehbare Zeit ein Fachkräftemangel und ein Arbeitnehmermarkt, sagt VBZ-Sprecherin Silvia Behofsits. «Das erschwert das Rekrutieren in anspruchsvollen und sicherheitsrelevanten Tätigkeiten im Schichtbetrieb.» Das merken auch andere Städte. Die Basler Verkehrs-Betriebe (BVB) sprechen von «einer grossen Herausforderung». Die Rekrutierung für den Fahrdienst sei schwieriger geworden.
Basel profitiere zwar von der Nähe zu Deutschland und Frankreich, wo ebenfalls Personal angeworben werden könne. Allerdings werde auch das immer schwieriger, weil die Nachbarstaaten die Anstellungsbedingungen verbessern. «Wir werden deshalb langfristig wohl das gleiche Strukturproblem zu spüren bekommen wie der Rest der Schweiz», sagt Sprecher Samuel Enderli.
Noch kann in Basel das normale Angebot gefahren werden. Dasselbe gilt für Bern. Laut Bernmobil-Sprecher Rolf Meyer bestehen auch keine Anzeichen, dass sich das in naher Zukunft ändert. Der Fachkräftemangel sei spürbar. Bisher habe man aber immer ausreichend Personal rekrutieren können, auch wenn es herausfordernder geworden sei. In Bern zeigt sich auch, wie hilfreich ein gutes Betriebsklima ist. Wer sich in der Branche umhört, vernimmt kaum je ein schlechtes Wort über Bernmobil. In Sachen Flexibilität und Teilzeit-Möglichkeiten gilt der Betrieb zudem schon länger als überdurchschnittlich fortschrittlich.
Ist die Zürcher Fahrplan-Misere auch der Stimmung geschuldet? Die VBZ weisen daraufhin, dass sie in der letzten Mitarbeiterbefragung gute Noten erhalten hätten. Tatsächlich hat Zürich noch zwei weitere Herausforderungen: Einerseits wurde hier das Angebot stärker ausgebaut als anderswo - etwa mit dem neuen Tram über die Hardbrücke, der Verlängerung des Trams 2 nach Schlieren oder einem Ausbau des Nachtnetzes. In Wochenendnächten bieten die VBZ seit 2021 auf den wichtigsten Achsen bis etwa halb fünf Uhr morgens den Viertelstundentakt. Das braucht Personal.
Andererseits ist die Wohnungsnot hier besonders akut. Früher lebten fast alle VBZ-Mitarbeitenden in der Stadt. Sie hatten einen kurzen Arbeitsweg und konnten in Pausen nach Hause - oft in eine Genossenschaftswohnung, die für sie gebaut wurde. Heute können sich viele Mitarbeitende eine Wohnung in der Stadt nicht mehr leisten. Im freien Markt sowieso nicht, aber auch Genossenschaften fühlen sich ihnen nicht mehr verpflichtet. Bei der «Baugenossenschaft der Strassenbahner» etwa heisst es, der Beruf der Bewohner interessiere sie nicht mehr.
Duri Beer vom VPOD schätzt, dass mindestens die Hälfte des VBZ-Personals in der Agglomeration wohnt und einen Arbeitsweg von rund einer Stunde hat. «Diese Mitarbeitenden verbringen die Pausen im Depot und sind nach einer 14-Stunden-Schicht erschöpft.»
Die Grundsatzfrage dahinter werden sich viele Städte stellen müssen: Was passiert, wenn sie zu teuer werden für jene, die sie am Laufen halten? In München, wo die Verkehrsbetriebe ihr Angebot ebenfalls ausdünnen müssen, fordert die CSU, dass die Stadt dem Personal des ÖV mehr eigene Wohnungen zur Verfügung stellt. In Zürich wollen die Verkehrsbetriebe Anbieter von günstigem Wohnraum «für die Bedürfnisse und die Bedeutung der Schichtarbeitenden in der Stadt sensibilisieren», wie Silvia Behofsits sagt.
Es sind Massnahmen, die langfristig wirken. Kurzfristig bleibt den Zürcherinnen und Zürcher nichts anderes übrig, als abends länger auf das Tram zu warten. (aargauerzeitung.ch)