39 Medaillen gewannen die Skandinavier bei den letzten Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang. Diese Marke hat nie zuvor eine Nation erreicht. Was macht Norwegen mit seinen beschränkten Ressourcen besser als alle anderen? Eine Spurensuche.
Das Zauberwort heisst Olympiatoppen. Ein unscheinbarer Gebäudekomplex oberhalb der Hauptstadt Oslo. Inmitten einer intakten Natur. Ein Ort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Und wo sich Langläufer Klaebo und Abfahrer Kilde gegenseitig heiss machen auf Olympia.
«Die Norweger haben es verstanden, aus der Einfachheit heraus ein Modell zu kreieren und eine Atmosphäre zu schaffen, wo Hochleistungssport disziplinenübergreifend gelebt wird. Man hat die besten Leute des norwegischen Sports zusammengebracht und daraus entsteht etwas noch Besseres», sagt der Schweizer Olympiachef Ralph Stöckli mit grosser Bewunderung zur Philosophie der Nordländer.
Der Olympiatoppen ist das Kompetenzzentrum des norwegischen Spitzensports. Es ist die Seele dieses einzigartigen Sportsystems. Hier wird die sportliche Energie eines Landes gebündelt, dessen Fläche grösser als jene Deutschlands ist, in dem aber nur 5,4 Millionen Einwohner leben.
Die Erfolgsbilanz dieser einmaligen norwegischen Sportkultur lässt sich sehen: je 14 Gold- und Silber- sowie 11 Bronzemedaillen feierte das Land bei den letzten Winterspielen in Südkorea – eine noch nie erreichte Marke. Eine Begegnung mit zehn Persönlichkeiten, welche die norwegische Sportkultur prägen und deren Geschichte eindrücklich widerspiegeln.
Der 61-Jährige gilt als Entwickler der norwegischen Leistungskultur und leitete während zehn Jahren das norwegische Sportzentrum Olympiatoppen in Oslo. Der frühere Europacuptrainer übernahm in den Achtzigerjahren die sportliche Leitung des Skiverbands. Die Alpinen kämpften sich damals mehr schlecht als recht durch den Weltcup. An den Olympischen Spielen in Calgary 1988 blieb der Erfolg gänzlich aus. Aambøs Engagement bedeute die Wende. Er begann im Ski eine Leistungskultur aufzubauen, die von der Systematik her später auf alle Sportarten übertragen wurde.
Er überlegte sich, was das norwegische Skiteam künftig auszeichnen sollte. «Skitechnisch brauchte die Entwicklung Zeit, aber in einem Punkt konnten wir sofort loslegen. Ich gab als Ziel aus, dass die norwegischen Skifahrer künftig konditionell die Besten der Welt sein wollten», erinnert sich Aambø. Eine Prämisse, die bis heute anhält. Rechtzeitig auf die Olympischen Spiele 1994 in Lillehammer pushten sich die Norweger in die Weltspitze, gewannen fünf Medaillen. Die «Attacking Vikings» waren geboren. Aambø nennt als wichtigste Erfolgsfaktoren: «Die Gründlichkeit, mit welchem wir einen Plan verfolgten. Und extrem harte Arbeit.»
Seine Erfolge als Sportmanager sprachen sich herum. Mit der Vergabe der Winterspiele 1994 nach Lillehammer startete Norwegen ein Programm zur Entwicklung von Leadership-Kompetenz im Sport. Die Idee des Olympiatoppen als dieses Kompetenzzentrum war geboren, Aambø begleitete den Aufbau von Beginn weg an vorderster Front. «Viele Elemente der heutigen Sportkultur hatten ihren Anfang zu Beginn der Neunzigerjahre», sagt er, «und der Alpine Skisport war einer der wichtigsten Träger dieser Kultur». Aambø war zwischen 2004 und 2012 an fünf Olympischen Spielen Chef der norwegischen Mission.
Heute leitet er den sogenannten High Performance Cluster. Zwar laufe das System mit dem Olympiatoppen nach wie vor gut, «aber wenn du denkst, du bist gut, beginnt oft der Stillstand». Aambø soll die norwegische Sportkultur unabhängig der bestehenden Strukturen weiterdenken. Er versucht, andere Erfolgskulturen des Landes mit dem Sport zu verlinken und gegenseitig zu stimulieren. Mit dem Innovations-Hub «Igloo Innovation» versucht er gleichzeitig eine Art Silicon Valley der norwegischen Sportindustrie zu schaffen. Ein Netzwerk für die heimische Wirtschaft, Sport und Wissenschaft, welches der Sportentwicklung als Motor dienen soll.
«Unsere Skikultur basiert auf Ole-Kristian Furuseht», sagt Jarle Aambø. Es habe Ende der Achtzigerjahre keinen Skifahrer gegeben, welcher derart ambitioniert war wie der Riesenslalom-Spezialist und langjährige Konkurrent des Schweizers Mike von Grünigen. Furuseth gewann zweimal den Riesenslalom-Weltcup und bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2002 neun Weltcuprennen. Zusammen mit Atle Skaardal, Kjetil André Aamodt und Lasse Kjus gehörte er der ersten erfolgreichen Generation der norwegischen Alpinen an.
Furuseth ist ein bescheidener Mensch. Ihm ist das Lob seines langjährigen Chefs beinahe peinlich. Er spricht von vielen tollen Athleten, die Charakter hatten und Respekt vor anderen Menschen zeigten. «Uns waren Werte immer sehr wichtig. Alle im Team hatten bei uns die gleiche Wichtigkeit. Der Servicemann war nicht weniger wert als der Athlet.». Furuseth glaubt, dass diese Bescheidenheit ein wichtiger Teil der norwegischen Sportkultur sei.
Der 55-Jährige erinnert sich, wie er zusammen mit Kjetil André Aamodt im Wald neben dem Olympiatoppen ein Bungalow mietete, um möglichst nahe am Trainingszentrum zu sein. «Wir trainierten sehr viel, sehr polysportiv und von Beginn weg stets gemeinsam». Auch heute kommen die Alpinen nach der Saison nach Oslo, um das Aufbautraining als Team im Olympiatoppen zu bestreiten.
Der 56-Jährige ist aktueller Leiter des Olympiatoppen. Er betont die Wichtigkeit dieses Zentrums. «Wir sind eine kleine Nation, die ihre Mittel bündeln und intelligent einsetzen muss», sagt er. Im Olympiatoppen werde das Wissen gesammelt und weitergegeben. Der Austausch von Kompetenz ist ein entscheidender Pfeiler des norwegischen Sportsystems. Die Zusammenarbeit über die Sportartengrenzen hinweg hat einen ungleich grösseren Stellenwert als beispielsweise in der Schweiz. Das Motto dabei: Kompetenz ist wichtiger als Geld.
Øvrebø spricht auch die Innovation an, welche seine Arbeit antreibt. Dass es in Norwegen kein sportartenspezifisches System gibt, befeuere das freie Denken. Man kann bei der Entwicklung von Disziplinen einen eigenen Weg gehen und bewegt sich nicht auf vorgespurten Pfaden. An den Sommerspielen in Tokio holte Norwegen Gold im Beachvolleyball und im Triathlon – Sportarten, die vor zehn Jahren im Land noch nahezu bedeutungslos waren.
Sport hat in Norwegen einen sehr hohen kulturellen Wert. Dies zeigt sich auch darin, dass das Familienleben häufig auf den Sport ausgerichtet ist. Ressourcen werden in die sportliche Karriere der Kinder gesteckt.
Familiär geht es auch in den vielen polysportiven Vereinen zu und her. Oft sind es Eltern oder Nachbarn, welche sich als Trainer und Funktionäre engagieren. Kjelsås IL ist mit 3900 Mitgliedern einer der grössten Sportvereine der Hauptstadt. 80 Prozent aller Kinder im geografischen Einzugsgebiet machen im Verein mit. Dieser bietet von Ski alpin über Handball und Fussball bis hin zu OL acht Sportarten an. Auch der Behindertensport ist integriert. Alle Kinder erhalten Einblick und Trainings in allen Sportarten. Eine frühe Spezialisierung wird bewusst vermieden.
Truls Nygaard ist vollamtlicher Geschäftsführer des Klubs. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Er erklärt die Grundprinzipien des norwegischen Vereinssports. «Wir wollen das Training der Jugendlichen so lang wie möglich als Spiel betrachten», sagt er. Dieses «Spass haben» zieht sich oft durch bis weit in die Elitekarriere hinein. In Norwegens Kindersport existieren bis zum Alter von 12 Jahren auch keine Ranglisten. Es gibt sogar Überlegungen, diese Altersgrenze um zwei Jahre zu erhöhen.
Nygaard sagt, viele Familien passen ihr Leben an den Sport an. Der Verein binde die Eltern stark ein. «So entsteht für die späteren Athleten ein starkes soziales Umfeld». Dank dem Know-how des Olympiatoppen profitieren auch die Klubtrainer von einer Ausbildung, die auf einer einheitlichen Philosophie basiert. Insgesamt gibt es in Norwegen 11'500 solcher polysportiven Sportklubs mit insgesamt 2,9 Millionen Mitglieder. Das halbe Land ist also im Sport engagiert.
Welche Bedeutung die Erlebnisse im Verein haben, zeigt das Beispiel von Eirik Brandsdal. Der 35-jährige Langläufer ist erst 2020 vom Spitzensport zurückgetreten. In seiner Karriere erreichte der Sprintspezialist 24 Podestplätze im Weltcup. Brandsdal ist vor neun Monaten Vater geworden. Sein Sohn heisst Lars – zu Ehren des langjährigen Klubtrainers.
«Die Klubs sind es, denen der Ruhm des sportlichen Erfolgs gehört», sagt der bescheidene Spitzensportler, «sie machen den Sport aus und fördern die Talente massgeblich». Brandsdal ist seit Kindesalter Mitglied bei Kjelsås IL. Er selber habe sportlich den Knopf erst mit 18 Jahren aufgetan, «aber das soziale Umfeld in der Gruppe hat bewirkt, dass ich auch zu einem späten Zeitpunkt mein Talent noch entwickeln konnte». Auch habe er die Verspieltheit, welche die Klubtrainings prägten, während seiner gesamten Karriere nie abgelegt. Heute trainiert Brandsdal das U23-Langlaufteam von Kjelsås IL und versucht ihnen, die gleiche Eigenverantwortung mit auf den Weg zu geben, welche auch seine Entwicklung massgeblich beeinflusste.
Die Talentförderung hat im norwegischen Sport einen hohen Stellenwert. Im Sportzentrum Olympiatoppen koordiniert Jan Wojtaszek als Chef Nachwuchs die Aktivitäten. Als Assistenztrainer im Alpinen Skisport hat er die Blütezeit von Lasse Kjus und Aksel Lund Svindal miterlebt. Seit drei Jahren kümmert er sich nun sportartenübergreifend um die Talententwicklung. «Wir lieben und hassen diesen Begriff gleichzeitig. Es wird in Norwegen viel darüber diskutiert, was genau Talent ausmacht», sagt Wojtaszek. «Und wir verstehen unter Nachwuchsförderung garantiert etwas anderes als zum Beispiel die Schweizer.»
Wichtig sei, das Potenzial zu erkennen und den Blick auf das Umfeld von Athleten zu richten. «Wir wollen den jungen Sportler die Möglichkeit bieten, ihr Talent mit der Zeit zu entwickeln.» Enorm wichtig sei auch, ihnen früh Eigenverantwortung zu vermitteln. Wojtaszek betont, dass in Norwegen auch in der Nachwuchsförderung ein roter Faden quer durch alle Sportarten existiert. Sein Leitspruch hat mit Geduld zu tun: «Es braucht zehn Jahre, um über Nacht Erfolg zu haben».
Eine mitentscheidende Stärke des norwegischen Sports ist die Nähe von Wissenschaft und Leistungssport. Einerseits geografisch, befindet sich die Sporthochschule doch Tür an Tür mit dem Olympiatoppen. Andererseits aber vor allem auch in den Köpfen aller Beteiligten. Wenn Trainer oder Athleten Hilfestellungen verlangen, dann wird ein Projekt schnell umgesetzt.
Der Däne Klavs Madsen koordiniert als Abteilungsleiter Leistungssport die Zusammenarbeit von Forschung und Praxis. Madsen hat nach seinem Wechsel aus seinem Heimatland schnell erkannt, was Norwegen im Sport derart stark macht. «Die konsequente, aber herzliche Trainingskultur in den Klubs, der unkomplizierte Wissenstransfer von der Hochschule in den Aktivsport und der gezielte Aufbau von spezifischen Kompetenzen an der Sporthochschule.»
Madsen erklärt, dass es dort je fünf verschiedene Bachelor- und Master-Abschlüsse gibt. «Derart spezialisiert und in hoher Qualität kennt man das in anderen Ländern nicht». Die sehr gut ausgebildeten Studierenden seien meistens auch früh mit Sportklubs oder Verbänden verlinkt. Das weitergegebene Wissen erzielt schnell einen Effekt. Stolz ist Madsen auch auf die Fähigkeit seiner Mitarbeiter, Technologie zu entwickeln und sie kreativ anzuwenden.
Gleich mehrere Lehrpersonen arbeiten zu gleichen Teilen an der Sporthochschule und für den Olympiatoppen, sind also Bindeglied zwischen Wissenschaft und Elitesport. Anne Marte Pensgaard, welche in Peking die Verantwortung für die sportpsychologische Betreuung des norwegischen Olympiateams trägt, ist ein solches Beispiel. Thomas Losnegaard, der Chef Ausdauer im Sportzentrum, ein anderes.
Pensgaard sieht einen grossen Vorteil darin, «wenn Akademiker auch im Feld arbeiten. Die Sportler und die Studenten profitieren davon». Den Olympiatoppen empfindet sie als grossartigen Platz, in welchem es täglich zum Austausch von Athleten aus verschiedenen Sportarten kommt. Das sei sehr inspirierend. Auch sie sieht den konsequenten Fokus auf Werte und auf die Philosophie als wichtigen Bestandteil der Erfolge. «Das System steht über dem einzelnen Akteur», sagt Pensgaard. Losnegaard nennt ein Beispiel: «Wenn wir in Norwegen von einem Intensitätstest sprechen, dann verstehen alle Sportarten das Gleiche darunter.»
Der ehemalige Nordisch Kombinierer und Skisprungtrainer kommt im Renndress und mit Ski unter dem Arm zum vereinbarten Treffpunkt. Der Ausbildungsverantwortliche im Skiverband für Langlauf muss später noch zu einem Trainingskurs im Osloer Hinterland. Er symbolisiert in seiner Funktion gleich mehrere Schnittstellen. Einerseits versucht er, die Türen zur Wissenschaft stets offen zu halten. Andererseits ist er auch Scharnier zwischen den vielen Ski-Trainern und den Sportartenverantwortlichen im Olympiatoppen. Dort geht Kalfoss beinahe täglich ein und aus.
Sein Job ist die langfristige Entwicklung einer Sportart und die Kompetenzerweiterung der Trainer. «Es geht darum, sich mit der Wissenschaft zu vernetzen. Bei allen Gesprächen und Projekten stelle ich mir die Frage, was davon den Athleten einen Mehrwert bietet», sagt Kalfoss. Dieses Wissen werde dann mit anderen Sportarten geteilt. So haben sich beispielsweise die Leichtathleten und die Langläufer von den Erfahrungen im Höhentrainingslager gegenseitig befruchtet. «Wir sind sehr offen beim Teilen von Informationen», sagt Kalfoss. Auch unter den Athleten: «In Trainingslagern der Langläufer stehen die Zimmertüren stets offen. Es gibt keine Geheimnisse».
Neben den Verantwortlichen für verschiedene Bereiche wie Nachwuchsförderung, Ausdauer, Kraft oder Sportpsychologie gibt es im Olympiatoppen auch Coaches für einzelne Sportarten. Arthur Koot nimmt diese Funktion für Ski Alpin und Langlauf ein. Er sorgt dafür, dass der Wissenstransfer unter den Sportarten leicht zugänglich, transparent und wechselseitig ist. Es sei normal, dass jede Disziplin Einblicke in die Trainingswissenschaft gewähre. «Norwegen ist ein Land mit wenig Einwohnern. Da ist die Erkenntnis zentral, dass wir nur miteinander Erfolg haben können», sagt Koot.
Im Gegensatz zum Dachverband Swiss Olympic in der Schweiz, wo die Sportartenverantwortlichen vor allem administrative Dienste leisten, sind Arthur Koot und seine Kollegen in Norwegen sehr auf die Praxis und den Leistungssport ausgerichtet. «Wir supporten die Nationalteams im Ski», sagt er, «und sorgen dafür, dass Ideen und Projekte schnell umgesetzt werden können». Ein Vorsprung, der Gold wert sein kann.
Das ist nunmal der absolute Volkssport der Norweger. Selbst die Städter sind am Wochenende auf den Loipen unterwegs und schon für die Kleinsten gibt es Meisterschaften mit hunderten von Athleten. Der Talentpool ist riesig.
Aber auch einen Talentpool muss man nutzen und die Athleten an die Weltspitze bringen. Das machen sie hervorragend. Aber muss einfach etwas relativiert werden.
Btw, wir haben mit Maggligen und dem OYM auch unser "Olympiatoppen", für Winter- und Sommersport.