Fussballer brauchen für ihren Sport einen Ball, Tennisspielerinnen ein Racket, Eishockeyspieler einen Stock, Formel-1-Rennfahrer ein Auto und Springreiterinnen ein Pferd. Die Liste liesse sich beliebig erweitern. Wer Sport treibt, benötigt dazu in aller Regel ein Sportgerät.
Eine Ausnahme bilden viele Leichtathletik-Disziplinen. Da wird gerannt und es wird so weit wie möglich und so hoch wie möglich gesprungen. Ziemlich simpel.
Natürlich hatten die alten Griechen weder Hightech-Turnschuhe mit federnden Karbon-Einlagen noch Tartan-Rennbahnen. Damals wie heute steht trotz dieser Fortschritte der Mensch im Fokus und die Frage, was dieser aus reiner Muskelkraft zu leisten imstande ist.
Unbestritten ist der Final über 100 Meter der Männer der Höhepunkt jeder Olympischen Spiele (in Tokio am Sonntag, 14.50 Uhr Schweizer Zeit; der Final der Frauen ist am Samstag zur gleichen Zeit). Die knapp zehn Sekunden elektrisieren, weil sie uns sagen, wer der schnellste Mensch des Planeten ist.
Die unfassbarste Leistung vollbringen jedoch nicht Sprinterinnen und Sprinter, sondern Hochspringerinnen und Hochspringer. Man muss sich nur vor Augen führen, wozu diese Sportlerinnen und Sportler in der Lage sind.
2,45 m (bei den Männern) bzw. 2,09 m (bei den Frauen) sind die Weltrekordmarken. Das heisst: Der Kubaner Javier Sotomayor sprang 1993 bei seinem Rekord so hoch wie ein Fussballtor, dessen Unterkante der Latte 2,44 m vom Rasen entfernt ist.
So hoch wie ein Fussballtor! Und 52 Zentimeter höher, als Sotomayor vom Scheitel bis zur Sohle misst. «Einfach» so, dank eines perfekt getimten Anlaufs, eines kräftigen Absprungs, einer gleichzeitig energischen wie filigranen Bewegung in der Luft. Und das alles mit dem Mut, sich rückwärts der Latte zu nähern, sich gewissermassen blindlings ins Abenteuer zu stürzen.
Für die kurze Dauer von etwa einer Sekunde kommen Hochspringer in das Gefühl des Fliegens. Sie erfüllen sich damit einen der ältesten Träume der Menschheit. Oft spüren sie schon beim Absprung, ob der Versuch gelingt. Tut er es, wird das Segeln über die Latte zum Genuss.
Hochsprung sieht simpel aus, ist jedoch sehr komplex. Zunächst besteht die Schwierigkeit darin, leichtfüssig und doch zügig Anlauf zu holen. Anders als im Weitsprung muss vor der Sprunganlage jedoch eine Kurve gemacht werden, ehe der kräftige Absprung einen vom Boden in die Luft katapultiert. Der Fuss eines Hochspringers wird dabei 50 Mal höheren Kräften ausgesetzt als der eines Fussgängers.
Dazu kommt ein stetiger Balance-Akt abseits des Leichtathletik-Stadions: Gleichzeitig so leicht zu sein, dass es das Fliegen vereinfacht und doch so viele Muskeln zu haben, dass auch dies die Aufgabe erleichtert.
«Du musst gross sein, stark, schnell, beweglich, konzentrationsstark», zählt Weltrekordler Sotomayor auf, was einen guten Hochspringer auszeichnet. «Und du musst mental super stark sein. Du musst an dich glauben, auch wenn du siehst, wie hoch die Latte liegt. Beim geringsten Zweifel wirst du es nicht schaffen, sie zu überqueren.»
Die Frage, wann Javier Sotomayors Weltrekord abgelöst wird, ist vielleicht falsch. Die Frage könnte vielmehr lauten, ob die 2,45 Meter überhaupt jemals geknackt werden. Französische Forscher berechneten im Jahr 2008, dass 2,467 Meter das Ende der Fahnenstange sind, dass kein Mensch jemals wird höher springen können.
Doch nicht jeder Wissenschaft sollte Glauben geschenkt werden. Die Forscher berechneten auch, dass die 100 Meter nicht schneller als in 9,726 Sekunden zurückgelegt werden können – und wurden schon ein Jahr später Lügen gestraft, als Usain Bolt den bis heute gültigen Weltrekord von 9,58 Sekunden aufstellte.
«Ich hätte nicht gedacht, dass der Rekord so lange halten würde», sagte Sotomayor vor den Olympischen Spielen von Tokio. «Wenn Sie mich jetzt fragen, wie lange er noch Bestand hat, kann ich Ihnen darauf keine Antwort geben. Vielleicht ein Jahr, vielleicht fünf oder zehn. Der Fakt, dass mein Weltrekord immer noch gültig ist, obwohl mittlerweile so viel Forschung im Spiel ist, macht meine Leistung für mich noch eindrücklicher.» Er sei davon überzeugt, dass er eines Tages übertroffen werde, sagte der in der Endphase seiner Karriere mit Doping (Kokain und das Steroid Nandrolon) erwischte Sotomayor: «Ich werde mich nicht darüber freuen, aber ich werde es akzeptieren.»
Der legendäre Dick Fosbury, Olympiasieger 1968 in Mexiko und Erfinder der seither angewendeten Sprungtechnik, hält eine Höhe von 2,50 Meter für möglich. «Ich glaube nicht, dass Sotomayors Sprung das absolute Maximum ist», sagte Fosbury einst der «Welt». Und: Er sei sich sogar sicher, dass es bereits Menschen gebe, die so hoch springen könnten. «Die trainieren bloss nicht in der Leichtathletik, weil damit kein Geld zu verdienen ist. Die besten Hochspringer der Welt sind heute Basketball-, vielleicht auch Volleyballspieler.» Wer sich an Kopfbälle von Cristiano Ronaldo erinnert, fügt dieser Liste Fussballer hinzu.
Am nächsten kam Sotomayar vor sieben Jahren Mutaz Essa Barshim aus Katar. Der zweifache Weltmeister überquerte 2,43 Meter. Er zählt in Tokio zu den Favoriten. Nahe an den Frauen-Weltrekord, der seit 1987 von der Bulgarin Stefka Kostadinowa gehalten wird, kam Blanka Vlasic heran. 2009 übersprang die Kroatin 2,08 Meter – nur ein Zentimeter fehlte ihr zur Bestmarke.
In Tokio besitzen auch eine Schweizerin und ein Schweizer Medaillenchancen. Salome Lang und Loïc Gasch haben in dieser Saison beide den Landesrekord verbessert. Jener der Männer hatte fast 40 (!) Jahre lang Bestand, nun knackte Gasch die Marke von Roland Dalhäuser, als er im Mai in Lausanne 2,33 m überquerte. Nur drei andere Athleten sind in diesem Jahr noch höher gesprungen als der 26-jährige Waadtländer.
Wie Gasch zählt auch die Baslerin Salome Lang zur erweiterten Weltspitze. Sie verbesserte den Schweizer Rekord auf 1,97 m und belegt damit in der Jahres-Weltbestenliste auf Rang 6. Allerdings gilt bei beiden Geschlechtern: Die Spitze ist breit und in Tokio ist der Kreis derjenigen, die für eine Medaille in Frage kommen, gross.
(Alle Angaben in Schweizer Zeit)
Männer:
Freitag, 30. Juli, 2.00 Uhr: Qualifikation
Sonntag, 1. August, 12.00 Uhr: Final
Frauen:
Donnerstag, 5. August, 2.00 Uhr: Qualifikation
Samstag, 7. August, 12.00 Uhr: Final