Als er am Strafraumrand den Ball bekommt, steht er erst einmal still. Als würde er noch einmal einen Augenschein davon nehmen, was vor ihm liegt – wie ein Rennfahrer, der innerlich ein letztes Mal die Strecke durchgeht. Dann legt Michael Olise los.
Er lässt den ersten Spieler locker stehen, spielt sich auch am zweiten vorbei, den Ball stets eng am linken Fuss, lupft ihn über die Beine des nächsten Spielers in den freien Raum und bewahrt dabei stets den Blick für die Mitspieler. So sieht er den frei in der Mitte stehenden Jamal Musiala, dem er den Ball durch die Beine des bemitleidenswerten Bremer Verteidigers perfekt auflegt. Tor für die Bayern.
Es ist das Werk des 22-jährigen Franzosen, der beim 5:0-Erfolg der Münchner im Norden Deutschlands je zwei Treffer selbst erzielt und vorbereitet. Seine auffällige und trickreiche Spielweise auf dem Platz steht dabei im völligen Kontrast zu seinem Auftreten daneben. Olise ist nämlich eher schüchtern und zurückhaltend, Interviews gibt er nicht gerne.
Selbstverständlich wollen ihn viele Medien nach seinem Wahnsinns-Spiel am Samstag trotzdem vor die Mikrofone bekommen. So auch der vereinseigene TV-Sender. Olise blockt aber bei allen ab – bis Jamal Musiala kommt. Sein kongenialer Offensiv-Partner hatte ihm schon beim Gang vom Platz gesagt: «Heute musst du die Interviews geben.» Nun zerrt der 21-jährige Deutsche Olise gemäss Bild vor die Kamera und sagt ihm: «Komm jetzt, das gehört zum Geschäft.» Also bleibt der Flügelspieler stehen – sagt aber kein Wort. Vielmehr lässt er Musiala die Fragen in seinem Namen beantworten.
Jamal Musiala in today‘s Interview with Michael Olise together:
— 𝘽𝙚𝙣𝙟𝙞𝙁𝘾𝘽 ¹⁷ (@Official_Benji_) September 21, 2024
„We wanna keep going playing this way and keep having fun on the Pitch“🤝❤️ pic.twitter.com/sgLU5wrknB
Dass Olise gar nichts sagt, ist selbst für ihn ungewöhnlich, ein Mann der grossen Worte war er aber noch nie. Das Interview nach seinem Siegtor in der 94. Minute bei West Ham, damals noch in Diensten von Crystal Palace, ging viral. In 22 Sekunden beantwortete er die Fragen des Reporters: «Können Sie uns das Tor erläutern?» «Zaha hat mir einen Pass gegeben, ich hab geschossen und getroffen.» «Was war das für ein Gefühl?» «Ein gutes Gefühl.» «Und war es ein verdienter Sieg?» «Ja.»
Olise press conference reminded me of this video 😭 pic.twitter.com/DPAwxYWn1F
— hiba | 🎨 (@hibayFC) August 15, 2024
Bei seiner Vorstellungs-Pressekonferenz in München präsentierte sich ein ähnliches Bild. Olise absolvierte den Auftritt mit Fototermin, einer Kuchenübergabe durch Sportvorstand Max Eberl und einigen einsilbigen Antworten in nicht einmal sieben Minuten. Ähnlich emotionslos wie in Interviews wirkte er sonst nur am traditionellen Besuch am Oktoberfest vom Tag nach dem Erfolg in Bremen.
Der wortkarge Fussballer, dessen schüchternes Auftreten nicht mit mangelndem Selbstvertrauen verwechselt werden sollte, wurde 2001 in London als Sohn einer französisch-algerischen Mutter und eines nigerianischen Vaters geboren. Dort lernte er bei Arsenal und anschliessend bei Chelsea auch das Fussballspielen. Seinen Durchbruch feierte er aber bei Reading, wo er mit 17 Jahren als Profi debütierte und wo ihm in der Saison 2020/21 in der zweiten englischen Liga sieben Tore und zwölf Assists gelangen.
Daraufhin holte Crystal Palace das 19-jährige Talent in die Premier League. Zurück in London zog er mit seinen Leistungen das Interesse einiger Topklubs auf sich. Im Sommer 2023 war sich Chelsea bereits sicher, das Eigengewächs zurücklocken zu können, doch Olise bevorzugte eine Vertragsverlängerung bei den «Eagles». Es folgte eine von Verletzungen geplagte und trotzdem hervorragende Saison mit zehn Toren sowie sechs Assists in nur 19 Liga-Spielen.
Die Chelsea-Millionen lehnte Olise einerseits ab, weil er sich nicht für so lange Zeit an einen Klub binden wollte, wie es bei den Blues derzeit üblich ist. Andererseits ist ihm der sportliche Erfolg wichtiger als finanzielle Faktoren. Deshalb entschied er sich auch in diesem Sommer gegen einen Verbleib in der Premier League – unter anderem Manchester United, Newcastle und wiederum Chelsea galten als sehr interessiert – und für einen Wechsel zu Bayern München.
Gutes Geld verdient er selbstverständlich auch dort, mit 13 Millionen Euro Jahresgehalt gehört er gemäss Bild aber bei Weitem nicht zu den Topverdienern. Mit einer Ablösesumme von 53 Millionen Euro ist Olise, der vor wenigen Wochen sein Debüt fürs französische Nationalteam feierte, aber der viertteuerste Einkauf in der Geschichte des Bundesligisten. Nicht zuletzt deshalb dürften einige Fans skeptisch gewesen sein – kam er doch von einem Mittelfeld-Team aus der Premier League und war er in Deutschland noch nicht wirklich bekannt.
Nach sechs Spielen ist klar: Die Zweifel waren unbegründet. Olise steht bereits bei fünf Toren und drei Assists und überzeugt auch im Pressing. Mitspieler wie Harry Kane schwärmen von dem Neuzugang: «Er ist ein fantastischer Spieler und ein wirklich guter Typ.» Trainer Vincent Kompany fügt an: «Er hat ein ganz besonderes Talent. Viel besser konnte er nicht starten für Bayern.»
Aufgrund seiner Spielweise wird er auch schon mit zwei Klub-Legenden verglichen. Bereits vor einer Woche erklärte Sportvorstand Eberl: «Das ist ein Spieler, der wie ein junger Ribéry, ein junger Robben eben Aussergewöhnliches leisten kann.» Was er damit meinte, wurde spätestens in Bremen klar, wo der Linksfuss erneut gerne von der rechten Seite in die Mitte zog und sich im Strafraum selbst auf engstem Raum gegen mehrere Gegenspieler behauptete. «Ein bisschen Robben, ein bisschen Ribéry», titelte der Spiegel.
Oftmals mahnen Verantwortliche ja, mit solchen Vergleichen vorsichtig zu sein. Im Falle von Olise macht sich Trainer Kompany aber keine Sorgen: «Ich glaube nicht, dass er einer ist, der Druck spürt. Er geniesst den Fussball einfach.»