Der 47-jährige Australier Brett Clothier beschäftigt sich beruflich seit mehr als 20 Jahren mit Doping. Als Chef der Athletics Integrity Unit bekämpft er Betrug in der Leichtathletik, also in jener Sportart, die in der Vergangenheit für die meisten Dopingfällen bei Olympischen Spielen sorgte.
Wie sehr sind Sie aus Sicht eines Antidoping-Experten zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Olympischen Spiele?
Brett Clothier: Bei Olympischen Spielen beginnen die Anti-Doping-Massnahmen bereits viele Monate vor dem Anlass. Was die Leichtathletik betrifft, sind wir sehr zuversichtlich, dass wir unser Möglichstes getan haben, um die Redlichkeit dieser Wettkämpfe zu schützen. Es gab eine umfangreiche Anzahl von Dopingtests ausserhalb des Wettkampfs bei Athletinnen und Athleten der absoluten Weltspitze, also der Top 10 in jeder Disziplin. Durch dieses Testprogramm wollen wir die Integrität des Podiums schützen.
Wir hatten im Vorfeld von Paris einige hochkarätige Dopingfälle. Sie zeigen die Glaubwürdigkeit des Programms, weil wir in der Lage sind, Dopingvergehen bei den allerbesten Athleten unseres Sports aufzudecken. Aber natürlich ist nichts perfekt. Wir werden nicht jeden erwischen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, um die Dinge zu verbessern. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass wir im Vorfeld von Paris ein sehr starkes und glaubwürdiges Anti-Doping-Programm hatten.
Bei Nachkontrollen der Olympischen Spiele 2008 und 2012 wurden viele Leichtathleten nachträglich des Dopings überführt. Rechnen Sie auch dereinst mit einem solchen Szenario für Paris?
Mit diesen Nachkontrollen wurden in der Tat sehr viele Dopingvergehen aufgedeckt, mehr als Hundert Athleten aus allen möglichen Sportarten. Auch alle Dopingtests von Paris werden langfristig aufbewahrt und später nochmals untersucht. Aber seit 2008 hat sich viel geändert und ich glaube, seit die AIU in der Leichtathletik mit an Bord ist, sind die Anti-Doping-Massnahmen, die vor den Olympischen Spielen laufen, viel stärker.
Die Nachtests bleiben ein sehr wichtiger Teil des Programms, aber wir verlassen uns nicht in erster Linie auf sie. Unser wichtigstes Ziel ist es, Athleten, die dopen, vor dem Wettkampf vom Spielfeld zu holen. Das ist nicht immer möglich, aber es bleibt unser Ansporn.
Ist die Leichtathletik heute so sauber wie noch nie?
Ich würde behaupten: Ja, das ist so. Ich kann das mit einiger Zuversicht sagen. Die AIU wurde 2017 gegründet, und in dieser Zeit gab es rund 500 aufgedeckte Dopingfälle in der Leichtathletik weltweit. Und sehr viele davon von Spitzenathleten. Also hat unsere Arbeit eine echte Glaubwürdigkeit. Es gibt viele Athleten, die bei diesen Olympischen Spielen nicht antreten, weil sie gesperrt sind. Deshalb glauben wir, dass unser Sport so sauber ist wie seit langem nicht mehr. Aber wir versuchen keineswegs, die Dinge zu beschönigen. Natürlich gibt es in der Leichtathletik Doping, wie es in vielen Sportarten vorkommt.
In Paris war kein afrikanischer Läufer unter den besten zehn über 1500 Meter. Das ist eine Sensation. Hat das mit dem «Aufräumen» der AIU in Kenia zu tun?
Nun, dafür gibt es wahrscheinlich eine Reihe von Gründen. Aber das ist sicher einer davon. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Anti-Doping-Bemühungen in Ostafrika in den letzten sieben Jahren enorm verstärkt wurden. In diesen Ländern, insbesondere in Kenia, ist die Anti-Doping-Arbeit seither eine völlig andere. Ich würde behaupten, die Anti-Doping-Arbeit, die wir in Kenia betreiben, ist so streng wie nirgendwo auf der Welt. Das hat natürlich Auswirkungen.
Sind Sie eigentlich froh, nicht für die Dopingarbeit im Schwimmen oder im Velofahren zuständig zu sein, wo es aktuell intensive Diskussionen um Doping gibt?
Ich werde nicht über andere Sportarten sprechen. Aber ich kann den Leichtathletik-Fans versichern, dass wir in unserem Sport ein glaubwürdiges und transparentes Programm haben. Wir untersuchen sämtliche Fälle und alle Erklärungen, die wir dazu erhalten, gründlich.
Aber was denken Sie, wenn Sie an der Tour de France einen Fahrer wie Pogacar sehen, die Rekorde an Steigungen um zehn Prozent verbessert – notabene Rekorde, die im Dopingzeitalter erzielt wurden? Was würden Sie tun, wenn sich solche Leistungssteigerungen in der Leichtathletik ereignen?
Ich bin wirklich kein Radsportexperte, also kann ich dazu nichts Konkretes sagen. Was ich in Bezug auf die Leichtathletik sagen kann, ist, dass unsere Anti-Doping-Programme deshalb stark sind, weil sie auf Informationen basieren. Wir sammeln Informationen aus der ganzen Welt. Dazu gehören Informanten, wir untersuchen die Leistungen, wir untersuchen Aufenthaltsmuster, wir untersuchen die biologischen Daten der Athleten aus den Tests. All diese Dinge fliessen in die Festlegung der Testpläne und unsere Bemühungen ein, Doping aufzudecken. In unserem Sport spielt die Leistung in diesem Prozess also offensichtlich eine riesige Rolle, und ich bin sicher, dass dies auch in vielen anderen Sportarten der Fall ist.
Ein brisanter Fall ist noch nicht definitiv entschieden. Wird die AIU den Freispruch von Sprint-Wunderkind Erriyon Knighton in den USA trotz positiver Dopingprobe vors CAS ziehen?
Wir haben das Recht, gegen diese Entscheidung Berufung einzulegen. Wir prüfen derzeit die Akte und werden anschliessend entscheiden, ob eine Berufung gerechtfertigt ist.
Falls Knighton in Paris eine Medaille gewinnt, wäre es eine unschöne Situation!
Natürlich wäre es das, aber das wird unsere Meinung nicht beeinflussen und der Zeitpunkt des Falles ist nun mal, wie er ist. Das können wir nicht ändern. Wir können nur anhand der Fakten und Regeln entscheiden, ob Berufung eingelegt werden sollte.
Im Final über 200 m belegte Erriyon Knighton am Donnerstagabend Rang 4.