Titanen aus dem Bernbiet. Das Wort passt. Titanen waren die Riesen in Menschengestalt, ein mächtiges Göttergeschlecht, das die legendäre «Goldenen Ära» der Antike beherrschte.
Nun sind es Fabian Staudenmann (191 cm/110 kg) und Fabio Hiltbrunner (189 cm/110 kg), die beim wichtigsten Schwingfest des Jahres triumphieren. Ausgerechnet in der Ostschweiz. Im Appenzellerland. Wer es poetisch mag: ein Triumph der Berner Titanen im Lande der Kleinwüchsigen. Tatsächlich hat ja eine Untersuchung der Uni Zürich gezeigt, dass im Appenzellerland die kleinsten jungen Männer der Schweiz leben.
Nicht einer, zwei Titanen aus dem Bernbiet. Fabian Staudenmann bodigt im Schlussgang Armon Orlik und ist damit Festsieger. Weil Fabio Hiltbrunner seinen letzten Gang gegen König Joel Wicki ebenfalls mit einer Maximalnote gewonnen hat, steht er bereits vor dem Schlussgang als Festsieger fest. Entweder punktgleich gemeinsam mit dem Gewinner des Schlussganges. Im Falle eines Gestellten (Unentschieden) zwischen Fabian Staudenmann und Armon Orlik wäre er sogar alleiniger Festsieger geworden.
Der Triumph von Fabian Staudenmann ist erwartet worden. Er ist zusammen mit Samuel Giger der grosse Favorit. Und erfüllt die Erwartungen. Weil er einen enormen Reifeprozess durchgemacht hat.
Sein Talent steht schon seit längerer Zeit nicht zur Debatte. Er gilt als perfekter Sägemehl-Athlet. Als vielseitigster Schwinger der Gegenwart. Dazu in der Lage, aus dem Stand oder am Boden zu gewinnen. Aber vor einem Jahr ist er beim Unspunnen-Fest in Interlaken an den hohen Erwartungen noch zerbrochen. Nach einer Startniederlage gegen Samuel Giger, den Titanen der Ostschweizer, reichte es am Ende «nur» zum dritten Rang.
In Appenzell missglückt der Start erneut: Für den Gestellten gegen den Nordostschweizer Werner Schlegel werden ihm bloss 8,75 Punkte gutgeschrieben. 8,75 Punkte gibt es eigentlich nur dann, wenn bei einem Gestellten nicht richtig zur Sache gegangen wird. Sozusagen als Strafe unspektakuläres Schwingen. Aber es war ein intensiver Gang. Beide hätten die Note 9,00 verdient.
Der verlorene Viertelpunkt hätte das Fest gegen den Berner entscheiden können. Grund, sich zu ärgern. Mit den Kampfrichtern zu hadern. Aber er regt sich nicht auf. Ganz im Gegenteil: Fabian Staudenmann bleibt gelassen und sagt, die Notengebung gehe durchaus in Ordnung. Er habe gleich gedacht, es reiche nicht für neun Punkte. Die Gelassenheit eines Champions. Er wird hinterher sagen, er habe bei der Ankunft in Appenzell das Handy weggelegt, nie auf die Rangliste geachtet und einfach Gang für Gang in Angriff genommen. Es ist der Tunnelblick, die totale Konzentration der ganz «Bösen».
Eigentlich ist schon vor dem Schlussgang klar, dass Armon Orlik keine Chance haben wird. Die Aggressivität, die Fabian Staudenmann beim Aufwärmen und beim Ritual am Brunnen (neben dem Sägemehlring steht traditionell ein Holzbrunnen zum Auffrischen) ist schier unheimlich und schüchtert den Gegner ein. Mit der Botschaft: «Schau her, ich bin böse, sehr böse». Im Schwingen sind die Bösen die Guten.
Bereits 2016 hat Armon Orlik den Eidgenössischen Schlussgang gegen einen Berner (Matthias Glarner) verloren. Nun unterliegt er wieder bei einem Hochamt des Schwingens. Wieder läuft er in einen «Konter» des Gegners: Er versucht es mit einem Hüfter – ein geradezu naives Risiko, das fast zwingend zur Niederlage führen wird – und prompt kommt blitzschnell der Konter: Übersprung. Bumm. Fertig. Es ist seine erste Saisonniederlage.
Der Festsieg von Fabian Staudenmann entspricht den Erwartungen und er hat die Saison unbesiegt beendet. Der Triumph von Fabio Hiltbrunner ist eine Sensation. Oder doch nicht? Vor einem Jahr ist Rolf Gasser, der Geschäftsführer des Verbandes – ein Berner auch er – in einem Interview gefragt worden, welcher Berner König Joel Wiki herausfordern könne. Es lohnt sich, diese Passage noch einmal nachzulesen:
Tja, wo er recht hat, da hat er recht und bescheiden sagte er, auf diese Prognose angesprochen: «Manchmal hat man halt Glück …»
Fabio Hiltbrunner ist der Sohn eines … Titanen und einer Wolfwilerin. Sein Vater Hanspeter «Himbo» Hiltbrunner war einst beim SC Wyssachen der härteste Verteidiger im bernischen Drittliga-Fussball seiner Epoche (auch Sohn Fabio kickte als Junior) und ein hoch respektierter Langschläger im Hornussen.
Fabian Staudenmann hat mit Armon Orlik den Titanen der Ostschweizer gefällt. Fabio Hiltbrunner stürzt im letzten Gang mit Joel Wicki den Titanen der Innerschweizer. Es war der faszinierendste Gang dieses Festes: Die Art und Weise, wie der 19-jährige Emmentaler den König geradezu respektlos und ohne jede Furcht packt, an sich reisst und mit einem gewaltigen Zug bodigt, hatte etwas von der Urgewalt der Natur.
Der gelernte Landwirt (er hat im Sommer die entsprechende Prüfung bestanden) kann es hinterher kaum fassen, findet kaum Worte, sagt aber doch etwas, was die Ostschweizer und die Innerschweizer bis heute nicht so richtig verstehen. Aber schon immer das Erfolgsgeheimnis der Berner war. Fabio Hiltbrunner spricht vom Zusammenhalt unter den Bernern, den er als «familiär» bezeichnet. Wie man sich auch gegenseitig aufgeputscht habe.
Dieser Zusammenhalt ist logisch: Die Berner bilden den einzigen «sägemehlethnisch» homogenen Teilverband. Es mag Emmentaler, Oberländer, Oberaargauer oder Seeländer geben. Aber sobald sie das Kantonsgebiet verlassen, sind sie nur noch Berner. Das wird Samuel Giger, dem zweiten Titanen der Nordostschweizer, zum Verhängnis: Er kommt zwar im ersten Gang gegen Joel Wicki nicht über einen Gestellten und 8,75 Punkte hinaus. Aber seine Chancen sind nach drei Gängen wieder intakt. Dann aber «blockieren» ihn zwei «Böse» aus dem Bernbiet: Er muss gegen Curdin Orlik (der Bruder von Armon Orlik wohnt und schwingt im Bernbiet) und gegen Adrian Walther stellen. Beide sind bewusst keine grossen Risiken eingegangen. Sie haben im Dienst ihrer Kameraden den Favoriten der Nordostschweizer sozusagen «ausgebremst.» Am Ende reicht es Samuel Giger nur noch für Rang 5.
Diesen Zusammenhalt, der den Berner Teilverband zum mit Abstand erfolgreichsten der Geschichte gemacht hat, kennen die Nordostschweizer und die Innerschweizer nicht: Ihr Teilverband besteht aus mehreren Kantonen und Mentalitäten. Bei den Nordostschweizern sind es beispielsweise Zürcher, Appenzeller und Bündner, die einfach keine verschworene Einheit sein können. Die Nordostschweizer können in einem Jahr beim Eidgenössischen in Mollis (Glarus) auf heimischem Boden einen erneuten Triumph der Berner nur verhindern, wenn sie sich irgendwie doch zusammenraufen.
Und was ist nun der Wermutstropfen für Fabio Hiltbrunner? Er ist in Schmidigen-Mühleweg aufgewachsen. Einem Passübergang zwischen dem bernischen Oberaargau und dem Emmental. Dort hat es in Sichtweite zwei wahrlich legendäre Wirtshäuser gegeben: Den «Wilden Mann» (am Sonntag inzwischen nicht mehr geöffnet) und den «Bären». Was gäbe es dort jetzt für ein Fest! Aber leider sind beide Pinten weitgehend dem Beizensterben zum Opfer gefallen.