Olympische Winterspiele 1964 in Innsbruck. Hoffnungsfroh reist eine 77-köpfige Schweizer Delegation an. Nur Gastgeber Österreich (83) und die USA (90) haben noch mehr Athletinnen und Athleten entsandt.
Nach den Spielen wird das böse Wort vom «Olympia-Tourismus» die Runde machen. Das Resultat wird historisch sein: Nie vorher und nie nachher in der olympischen Geschichte ist eine so grosse Schweizer Delegation ohne Medaille heimgekehrt. Immerhin gibt es zwei 4. Plätze.
Jos Minsch verpasst in der Abfahrt Bronze um sechs Hundertstelsekunden. Willi Favre beendet den Riesenslalom auf dem 4. Rang. Hätte es beiden zu Bronze gereicht, wäre in unserem Sport alles so geblieben, wie es war. Natürlich wäre die Ausbeute enttäuschend gewesen. Aber zweimal Bronze ist nicht sooo schlecht.
Aber keine Medaille bei Winterspielen! Das hat es überhaupt noch nie gegeben. Die Diskussionen über das grösste Versagen in der Geschichte unseres Sportes werden nicht nur am Biertisch geführt. Die Schweiz ohne Medaille ist ein internationales Medienthema.
Erstmals hält der Sport Einzug ins politische Establishment. Bundesrat Paul Chaudet – er sollte später in der Mirage-Affäre untergehen – gibt einer internationalen Agentur ein aufsehenerregendes Interview zum helvetischen Spitzensport. Er bejaht ihn grundsätzlich und stellt erstmals in der Schweizer Geschichte die Möglichkeit der direkten Bundeshilfe für den Sport im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen in Aussicht. Das alles hätte es mit zweimal Bronze nicht gegeben.
Im Sommer 1964 wird eine aus 32 Mitgliedern und 25 Experten bestehende Studiengruppe gebildet, die sich in zwölf verschiedenen Arbeitsausschüssen mit den Problemen im helvetischen Spitzensport befasst. Die Experten nennen in ihrer Analyse vor allem Unerfahrenheit, ungenügende Technik, fehlende Ausbildung der Trainer, mangelnde Kondition und Material, das in der Zerreissprobe zerbrach, als Ursachen für das historische Debakel.
Es wird darauf hingewiesen, dass der Sport in der Schweiz auf absoluter Freiwilligkeit beruhe und dem Spitzenathleten keinen sozialen und materiellen Anreiz biete. Eine Steigerung sei nur dann möglich, wenn dem Spitzenkönner auch gewisse Privilegien eingeräumt würden. Und sie schaffen schliesslich mit ihren Vorschlägen vor 60 Jahren die Voraussetzungen für die Entwicklung der Sportnation Schweiz, wie wir sie heute kennen. Zu all diesen Erkenntnissen wären wir bei zweimal Bronze nicht gekommen.
Nach Innsbruck 1964 wird der Schweizer Sport von Grund auf neu organisiert. Es ist die tiefgreifendste Umwälzung in der Geschichte. Zwei Jahre später erfolgt aufgrund der Erkenntnisse der Expertengruppe die Schaffung des Nationalen Komitees für Elitesport (NKES). Ein spezielles technisches Organ für die Betreuung des Spitzensportes auf allen Ebenen wie Kurswesen, Trainerausbildung, Forschung, Sportmedizin, Medienarbeit und Talenterfassung. Das NKES wird so etwas wie das oberste Management unseres Sportes und koordiniert die gesamten Tätigkeiten.
1970 erfolgt die Gründung der Stiftung Schweizer Sporthilfe als nicht-subventionierte, gemeinnützige Non-Profit-Organisation. Bereits im ersten Jahr ihres Bestehens werden über eine Million Franken eingesammelt. Die Sporthilfe finanziert den Schweizer Spitzensport zu einer Zeit, als Sponsoring im heutigen Sinne und Werbung mit und auf Athletinnen und Athleten praktisch unbekannt sind. Es sind dies die Grundlagen zur Entwicklung des Profisportes, wie wir ihn heute kennen. Sie wären bei zweimal Bronze nicht geschaffen worden.
Diese Neuorganisation trägt Früchte und bereits acht Jahre nach Innsbruck feierte die Schweiz 1972 die «goldenen Tage von Sapporo» (4 Gold und je 3 Silber- und Bronze-Medaillen). Im Rückblick wird klar, dass diese Entwicklung, die einer «Neuerfindung» unseres Sportes, einer Revolution gleichkommt, erst die «Schmach von Innsbruck» mit bloss zwei 4. Plätzen möglich gemacht hat. Mit zweimal Bronze hätte es keine Revolution gegeben.
Freuen wir uns also über 4. Plätze. Erstens steht hinter jedem 4. Platz eine grandiose Leistung auf höchstem Weltniveau des Sportes. Das gilt auch, wenn Nina Brunner und Tanja Hüberli wider Erwarten im Beachvolleyball keine Medaille holen und «nur» auf Rang 4 kommen.
Zweitens sollten wir gerade in Gedenken an Innsbruck 1964 die 4. Plätzen in Ehren halten wie keine andere Sportnation und uns darüber so freuen wie über Medaillen.