Eine Standortbestimmung mit Statistiken. Also keine Polemik. Am 21. Juli 2002 debütiert Tom Lüthi (34) beim GP von Deutschland mit einem 26. Platz im Training. 18 Jahre später steht er leistungsmässig wieder ungefähr dort, wo alles begonnen hat. Den GP von Portugal beginnt er auf dem 24. Starplatz.
Immerhin: Im Rennen (16.) ist er besser als damals auf dem Sachsenring (33.) und die Schmach einer Niederlage gegen Dominique Aegerter (20.) bleibt ihm beim Saisonfinale erspart. Aber er bleibt zum vierten Mal in Serie ohne WM-Punkte. Zum ersten Mal seit der 2002, das MotoGP-Abenteuer ausgenommen. Und der 11. WM-Schlussrang ist die schwächste Klassierung in der Moto2-WM. Bisher war er immer mindestens auf den 6. Platz gekommen. 2020 ist zudem seine erste Moto2-Saison ohne Podestplatz
Zwischen 2002 und 2020 liegt eine wundersame Renaissance unseres Töffrennsportes. Tom Lüthis WM-Titel von 2005 ist auch die Initialzündung für die Karrieren von Dominique Aegerter, Randy Krummenacher oder Jesko Raffin, die es alle bis in den GP-Zirkus schaffen. Und nun stehen wir fast wieder dort, wo diese wunderbare Zeit vor 18 Jahren angefangen hat.
Das Scheitern in der Königsklasse «MotoGP» ist 2018 für Tom Lüthi zwar schmählich (keine WM-Punkte), aber noch kein Karriereknick. Immerhin hat er es bis ganz nach oben geschafft und die Rückkehr in die Moto2-WM 2019 gelingt. Erst in diesen Tagen, am Ende des Töffjahres 2020, drängt sich zum ersten Mal die Frage auf: War es die Saison zu viel? Ist diese grandiose Karriere nun zu Ende?
Nein, 2020 war nicht das Jahr zu viel. Aber 2020 war zu viel für Tom Lüthi. Er ist weit unter seinem wahren Wert klassiert. Es gibt gute Ausreden. Sein Cheftechniker Michael Thier war diese Saison ebenso hoffnungslos überfordert wie Teamchef Jürgen Lingg bei der Bewältigung der heraufziehenden Krise. Und die besonderen Umstände haben dem hochtalentierten, aber sensiblen Tom Lüthi noch schwerer zu schaffen gemacht als vielen Konkurrenten.
Der dichte Terminplan mit fünf Doppel-GP (zwei Rennen in Wochenfrist auf der gleichen Strecke) erschwerten die physische, aber mehr noch die psychische Erholung: Es war für die Fahrer extrem schwierig, sich vom Dauerstress zu befreien. Erst recht wegen der fehlenden Bewegungsfreiheit aufgrund der Virus-Einschränkungen. Sie führte dazu, dass die Teams dazu «verurteilt» waren, ständig auf engem Raum zusammenzubleiben. Abstand gewinnen war fast unmöglich. Erfolg konnte eine positive Dynamik auslösen. Misserfolg aber sorgte für eine negative Dynamik, die nicht mehr zu stoppen war.
Der Emmentaler gibt unumwunden zu: «Es war eine extrem schwierige Saison und wir haben unsere Ziele überhaupt nicht erreicht. In allen Belangen. Die Zusammenarbeit im Team ist immer schwieriger geworden, auch die Kommunikation hat gelitten.»
Wir haben also sehr wohl gute Erklärungen (oder eben Ausreden) für das Scheitern. Aber sie zählen ab dem heutigen Tag nicht mehr. Am Donnerstag stehen bereits die ersten Tests mit seinem neuen Arbeitgeber auf dem Programm. Das Team von Eduardo Perales testet mit Tom Lüthi in Jerez.
Der Wechsel in dieses spanische Team mit einem Zweijahresvertrag (für die Saisons 2021 und 2022) ist die letzte Chance. Und das Ende aller Ausreden. Weil es keine mehr gibt. Bei Eduardo Perales gibt es weder technische Dilettanten noch fehlt es an Erfahrung. Das Team des Spaniers gilt als das meistunterschätzte im Fahrerlager und an keinem anderen Ort kann der sensible Tom Lüthi eine bessere Betreuung bekommen.
Marco Rodrigo, unter anderem Manager von Jesko Raffin, hat jahrelang mit Eduardo Perales gearbeitet und kennt das ganze Fahrerlager wie seine Hosentasche. Er sagt: «Ein besseres Team hätte Tom Lüthi nicht finden können. Hier dreht sich alles um den Fahrer und der Teamchef weiss als ehemaliger Rennfahrer genau, was Sache ist. Für seine Fahrer geht er durchs Feuer. Die technische Betreuung ist absolut erstklassig.»
Tom Lüthi ersetzt bei Eduardo Perales den Australier Remy Gardner (22), der zu KTM wechselt, und kann dessen Cheftechniker übernehmen. Remy Gardner hat soeben beim GP von Portugal die Trainingsbestzeit herausgefahren und seinen ersten Moto2-GP gewonnen. Das ist die Messlatte.
Remy the record breaker! 🔝@GardnerRemy becomes the 26th different winner this season across all classes, a new Grand Prix record! 🥇#Moto2 | #PortugueseGP 🇵🇹 pic.twitter.com/De3o6Drv09
— MotoGP™🏁 (@MotoGP) November 22, 2020
2021 wird das Jahr der Wahrheit und das Jahr ohne Ausreden für Tom Lüthi. Sein Manager Daniel Epp sagt: «Wir werden die Antwort auf alle Kritik in der nächsten Saison auf der Rennpiste geben.» Das ist keine vollmundige Ankündigung. Das ist schlicht und einfach die einzige Möglichkeit, die seinem Fahrer noch bleibt. Mit Leistungen wie in der abgelaufenen Saison ist seine Karriere im Herbst 2021 zu Ende – Zweijahresvertrag hin oder her.
Gleiches gilt für Jason Dupasquier (19). Der Vertrag bei seinem Team läuft am Ende der nächsten Saison aus. Er ist 2020 nicht ein einziges Mal in die WM-Punkte (Top 15) gefahren. Geht es 2021 so weiter, ist auch seine Karriere zu Ende.
Jesko Raffin (24) hat seinen Platz im GP-Zirkus auf dramatische Art und Weise verloren. Eine Virus-Erkrankung (nicht Corona) hat seine Saison ruiniert. Erst jetzt ist er wieder topfit. Aber zu spät, um sein enormes Talent noch einmal unter Beweis stellen zu können. Er gibt nicht auf. Aber die Chancen für eine Fortsetzung der Karriere auf dem höchsten Niveau stehen nicht gut.
Sein Manager Marco Rodrigo sagt: «Ich stehe weiterhin mit allen in Frage kommenden Teams in Kontakt. Offene Plätze gibt es für uns jetzt keine.» Es gehe darum, bereit zu sein, wenn sich irgendwo eine Tür öffne. In diesem Geschäft kann sich jeden Tag eine Tür öffnen.
Besser als erwartet ist es nur für Dominique Aegerter (30) gelaufen. Im MotoE-Weltcup hat er Schlagzeilen geschrieben und die Medienpräsenz bekommen, die er für seine Sponsoren braucht (3. Schlussrang/1 Sieg). Über ihn ist 2020 mehr gesendet und geschrieben worden als über Tom Lüthi.
Nicht ausgeschlossen, dass das auch 2021 so sein wird. Der Rohrbacher wird wieder den MotoE-Weltcup auf der grossen GP-Bühne fahren. Und wenn es nicht Terminüberschneidungen gibt, dann wird er für ein renommiertes japanisches Yamaha-Team (Ten Kate Racing) die Supersport-WM bestreiten. Die zweitwichtigste Klasse der Superbike-Szene findet zwar praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Aber so behält er den Fuss im Geschäft, verdient ein bisschen Geld und bleibt in Form. «Bei den Verhandlungen ist man uns sehr entgegengekommen, es ist möglich, dass wir uns einigen» sagt Dominique Aegerter.
Zusätzlich ist er inzwischen der begehrteste Ersatzfahrer in der Moto2-WM. Fällt irgendwo einer durch Verletzungen aus, kann Dominique Aegerter sofort einspringen. Er hat diese Saison bei «Feuerwehreinsätzen» bewiesen, dass er sich reibungslos in ein Team integriert und gute Resultate herauszufahren vermag. Bei vier Einsätzen im Team von Jarno Janssen ist er zweimal in die WM-Punkte gefahren.
2021 wird noch einmal eine spektakuläre, hochinteressante Saison für den Schweizer Töffrennsport. Steigert sich Tom Lüthi nicht, ist es auf Jahre hinaus die letzte und es wird ab 2022 wieder so sein wie vor 2002.