Es war der Aufreger vor den Olympischen Spielen in Tokio 2021. Stunden vor der geplanten Abreise setzte der Internationale Sportgerichtshof (CAS) die zuvor von der Schweizer Disziplinarkammer (DK) aufgehobene provisorische Sperre gegen Sprinter Alex Wilson wieder in Kraft. Ein unangekündigter Test hatte in Wilsons Urin Spuren des verbotenen Anabolikums Trenbolon zutage gebracht. Der Athlet erklärte, die Ursache sei eine Kontamination beim Verzehr von Fleisch in Las Vegas gewesen. Letztlich überzeugte er damit weder Swiss Sport Integrity noch das CAS.
Monate später wurde Wilson von der DK definitiv für vier Jahre gesperrt. Seither hat sich der Basler mit Wurzeln in Jamaika nicht mehr verlauten lassen – bis kurz vor den Olympischen Spielen in Paris. Am Abend, als in den USA ein Doping-Freispruch gegen Supersprinter Erriyon Knighton publik wird, meldet sich Wilson. Nun fühle er sich von den Schweizer Anti-Doping-Behörden erst recht unfair behandelt, sagt der 33-Jährige, der trotz erhaltener Höchststrafe noch immer auf unschuldig plädiert. An ihm habe man ein Exempel statuiert, während die US-Dopingjäger ihre Olympia-Medaillenhoffnungen freisprechen würden.
Die US-Anti-Doping-Agentur (USADA) will dieses Urteil akzeptieren, obwohl sie im Schnellverfahren doch eigentlich eine vierjährige Sperre forderte. Am Rande der Sommerspiele liess ein Entscheidungsträger der Welt-Anti-Doping-Behörde (WADA) gegenüber CH Media verlauten, mit grosser Sicherheit beim CAS gegen den Freispruch in Berufung zu gehen. Ob Zufall oder Absicht: Weil bis zum Start der Spiele keine Urteilsbegründung vorlag, darf Knighton in Paris starten.
Es ist nicht das erste Beispiel in jüngster Zeit, bei dem die US-Dopingbehörden den Argumenten eines Athleten Glaube schenkten. Speziell im Knighton-Fall ist auch, dass die USADA auf eigene Faust Fleischproben beim Lieferanten organisierte und darin tatsächlich Spuren des in der Viehmast eingesetzten Trenbolons fand. Alex Wilson interpretiert dieses Vorgehen so, dass man in den USA dem Athleten helfe, während man in der Schweiz nur gegen den Sportler arbeite.
Wird also bei Dopingvergehen mit ungleichen Ellen gemessen? Geht die Schweiz zu streng mit Sportlern um? Ernst König, Direktor von Swiss Sport Integrity (SSI) und in dieser Funktion oberster Dopingfahnder im Land, verneint dies klar. Er betont, dass man in der Schweiz im Ablauf eines Dopingverfahrens keinen Unterschied zwischen einem namenlosen Athleten und einem Aushängeschild einer Sportart mache.
König bezweifelt, dass dieses Vorgehen in den USA für den Athleten eine Hilfe ist. «Was ist, wenn wir auf keine entlastenden Fakten stossen. Dann wirft man uns mit Garantie vor, wir hätten gegen den Sportler gearbeitet.» Die Dopingregeln sehen klar vor, dass der Beschuldigte seine Unschuld beweisen muss. Diesen Grundsatz betont auch die WADA.
In gewissen Fällen unterstützt aber auch SSI unter Verdacht stehende Sportler. In Fällen von möglicher Verunreinigung von Nahrungsergänzungsmitteln werden allfällige Proben in Zusammenarbeit mit dem Athleten in einem dafür spezialisierten Labor auf mögliche Rückstände von verbotenen Substanzen untersucht. «Damit ist sichergestellt, dass diese Abklärungen nach einem anerkannten Qualitätsstandard durchgeführt und damit auch juristisch verwertbar sind», sagt König.
Gegen Alex Wilson übrigens läuft aktuell noch ein zweites Verfahren im Zusammenhang mit einem Fall eines Dopinglieferanten in den USA. Der angebliche Naturheilarzt Eric Lira soll auch Wilson mit illegalen Substanzen versorgt haben. Lira hat sich für schuldig erklärt und offensichtlich verfügen die Ankläger über Beweise, welche Wilson stark belasten. Der Fall liegt seit neustem beim Schweizer Sportgericht zur Beurteilung. Eine maximal achtjährige Sperre ist möglich.
In einem anderen Dopingverfahren wurde Swiss Sport Integrity aus verschiedenen Kreisen für ihr Vorgehen kritisiert. Die provisorische Sperre gegen Mountainbiker Mathias Flückiger im Spätsommer 2022 sei nicht angemessen gewesen. Sie wurde später von der DK aufgehoben. Inzwischen ist Flückiger von der ersten Instanz gänzlich freigesprochen worden und gehörte in Paris zu den Medaillenanwärtern. Allerdings ist dieses Urteil noch nicht rechtskräftig.
In diesem Frühling wurde bekannt, dass vor drei Jahren in China bei 23 Schwimmerinnen und Schwimmern gleichzeitig eine verbotene Substanz gefunden wurde. Die chinesischen Behörden kamen zum Schluss, dass es sich um Kontamination handelte, und sprachen alle von ihnen frei – mit dem Segen der WADA. Bemerkenswert an diesem Fall ist, dass auch während der Abklärungen nie eine provisorische Suspendierung stattgefunden hatte.
Hätte man Flückiger also gar nie provisorisch suspendieren dürfen? Ernst König sagt mit Blick auf China: «In den allermeisten westlichen Ländern sind die Anti-Doping-Agenturen der klaren Meinung, dass die chinesischen Schwimmer bis zum Abschluss des Verfahrens hätten gesperrt werden müssen. Nicht, weil man sie frühzeitig als Doper abstempelt, sondern weil es die Regeln so vorsehen.» Dieser Grundsatz sei auch bei Flückiger angewandt worden.
Auch bei der WADA sieht man den unterschiedlichen Umgang mit Dopingverfahren nicht ohne Sorgenfalten. Es habe in jüngster Zeit einige kuriose Entscheidungen auf nationaler Ebene gegeben, sagt der WADA-Experte. Darunter sieht er auch den Freispruch der Handball-Bundesliga für den Schweizer Nationaltorhüter Nikola Portner.
Die deutsche Anti-Doping-Agentur zieht diesen Fall nun vors CAS. Nicht primär deshalb, weil man in Portner mit Garantie einen Doper sieht, sondern weil man die Begründung für den Freispruch nicht in Einklang mit den bestehenden und damit eigentlich zwingend anwendbaren Regeln sieht. Ernst König will diesen Fall nicht kommentieren. Nur so viel: «Ich bin froh darüber, dass wir in der Schweiz nicht mehr die Situation haben, in welcher die Sportverbände Dopingverfahren selbst beurteilen.»