20 Jahre ist es her, als der Toggenburger Bauernbub Simon Ammann mit seinem Doppelsieg bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City nicht nur in der Schweiz zum Gesicht einer Sportart wurde. Auch heute ist «Simis» Popularität ungebrochen, doch sportlich vermag der 40-Jährige nicht mehr mit den Besten mithalten. Der Rücktritt scheint näher als je zuvor
Vor 20 Jahren machte sich ein junger Journalist im wilden Schneetreiben auf dem Weg ins Toggenburg für das erste grosse Interview mit dem Doppel-Olympiasieger. Neben der aktuellen Thematik rund um den möglichen Rücktritt konfrontierten wir Simon Ammann vor seinem letzten Auftritt der Saison in Planica mit exakt den gleichen Fragen wie damals im Restaurant Sternen in Unterwasser. «Meine Karriere könnte noch ein ganzes Weilchen dauern», sagt «Simi» damals.
Werden Sie am Weltcupfinale in Planica schon wissen, ob dies der letzte Wettkampfsprung Ihrer Karriere sein wird?
Simon Ammann: Nein!
Sie haben in einem TV-Interview am Ende der Olympischen Spiele bemerkenswert offen Einblick in Ihre Überlegungen zum Rücktritt gegeben. Der perfekte Rücktritt scheint ähnlich schwierig wie der perfekte Sprung?
Ja, es öffnen sich bei dieser Frage zwei Seiten. Einerseits würden viele Sportler ihren Sport gerne länger ausüben, als dass sie es tun. Gleichzeitig verkleinert sich damit die Chance, dass sie so in einem erfolgreichen Moment abtreten. Ich persönlich habe nie einen solchen Moment für den Rücktritt gesucht. Ich suche eher das Gefühl, dass es jetzt gut für mich ist. Dieses kann sich auf unterschiedliche Weisen bemerkbar machen. Es kann der Augenblick sein, wo ich genug von all dem Trainingsaufwand habe. Oder vom Leben als Skispringer mit all den Reisen und den Abwesenheiten von zuhause. Ich stehe derzeit zweifellos an der Schwelle, wie es weitergehen soll. Aber es stellt sich bei Ihrer Frage noch eine andere Thematik.
Welche denn?
Was genau ist der perfekte Rücktritt? Der Begriff wird hochstilisiert. Man muss bei der ganzen Frage nach dem Rücktritt meine Gedanken nachvollziehen können. Ich bin jetzt 40 Jahre alt. Ich mache sehr viel dafür, dass ich topfit bleibe. Topfit zu sein ist für viele Menschen ein grosses Ziel. Ich finde das eine erstrebenswerte Vorgabe. Es ist im Spitzensport einfach sehr unüblich, dass man mit 40 Jahren diese Tätigkeit noch ausübt.
Ein langjähriger Reporter hat Sie live am TV gefühlsbetont zum Weitermachen aufgerufen. Geht Ihnen so etwas nahe?
Die Olympischen Spiele waren für mich eine sehr emotionale Angelegenheit. Ich habe mich auch deshalb ganz bewusst nicht näher zum Thema Rücktritt geäussert. Inzwischen bewege ich mich in dieser Frage wieder viel deutlicher auf der sachlichen Ebene.
Für viele Sportlerinnen und Sportler steht die Frage «aufhören oder weitermachen» nach den Olympischen Spielen stets besonders im Vordergrund. Ist das auch für Sie ein besonderer Moment, wo man sich mehr Gedanken über die Zukunft macht als sonst?
Teils, teils. Es hat klar damit zu tun, dass damit ein grosses Ziel wegfällt. Dann stellt sich die Frage, wie man diesen leeren Platz wieder auffüllt. Ich persönlich habe derzeit kein Verlangen, dies unmittelbar tun zu müssen. Ich habe mich nach den Olympischen Spielen darauf konzentriert, an den drei abschliessenden Skifliegen zu performen. Irgendeinen Verlegenheitssprung am Schluss der Saison zu zeigen, mag ich nicht. Ich freue mich auf diese Wettkämpfe und hoffe, dass es auch sportlich klappt. Vielleicht gelingt es mir nach Planica zu sagen «so jetzt ist es gut». Und sonst habe ich auch kein Problem damit, mich erst im Sommer oder im Herbst zu entscheiden. Und etwas fehlt mir derzeit auch noch.
Was denn?
Es war wieder eine spezielle Saison, oft ohne Zuschauer und einer eigenartigen Stimmung. Wenn man vor Publikum springen kann und das Dabeisein für alle Beteiligte cool ist, man als Charakter und als Teil der Sportart Skispringen geschätzt wird, dann kann es durchaus Sinn machen. Doch gerade ein solches Gefühl abzuholen, war in diesem Winter wieder enorm schwierig. Alle Wettkämpfe in Deutschland und Österreich fanden ohne Zuschauer statt. Das ist absolut fad. Ich lasse es mir offen, vielleicht auch ohne konkrete nächste Ziele nochmals einige Wettkämpfe zu bestreiten. Ich will mich jetzt noch nicht festlegen.
Es gibt Beispiele von Skispringern, die nach ihrer Karriere Mühe hatten, den Rank zu finden. Hat das nur mit der betroffenen Person zu tun oder doch auch ein wenig mit der Art der Sportart?
Das hängt ja auch zusammen! Der Skispringer landet nicht zufällig bei dieser Sportart. Es hat sicher damit zu tun, dass man die Sportart nach dem Rücktritt nicht mehr ausüben kann, im Gegensatz zu fast allen anderen Sportarten. Das zu akzeptieren, ist für viele Athleten ein schwieriger Teil. Das lässt man sich selbst oder das Umfeld vielleicht auch ein wenig spüren. Ich bin sicherlich so lange in diesem Sport dabeigeblieben, weil ich mich selbst sein wollte. Es ist viel wichtiger, was man selbst will, als wie deine Entscheidungen von aussen kommentiert werden. Genauso wenig wie sich ein Normalbürger vorstellen kann, von einer Skiflugschanze zu springen, genauso wenig sollte ein Skispringer jemanden anderen über sein Karriereende entscheiden lassen. Aber Skispringer sind oft darin gefangen, diese Entscheidung selbst zu treffen, weil es das absolute Ende ihrer Leidenschaft bedeutet.
Was macht Sie traurig?
Wenn es meiner Familie nicht gut geht, beschäftigt mich das selbstverständlich. Ich möchte für mich und meine Familie ein möglichst gutes Umfeld kreieren, trotz meiner speziellen Position als Sportler.
Wenn Sie sich heute mit dem Simon Ammann von 2002 vergleichen: Waren Sie damals auch ein wenig naiv unterwegs?
Nein. Ich habe damals meine Chancen für die Olympischen Spiele in Salt Lake City ziemlich genau vor Augen gehabt. Damals befand ich mich in der Sturm- und Drang-Phase. Ich würde auch rückblickend nicht sagen, das sei naiv gewesen. Ich konnte mich voll ausleben. Man will in diesem Alter raus, die Welt entdecken, sich zeigen. Das hat zu diesem Zeitpunkt für mich optimal zusammengepasst – auch was die sportlichen Leistungen betrifft. Man hat halt nun mal die Lebenserfahrung eines 20-Jährigen (lacht).
Sind materielle Werte in Ihrem Leben zweitrangig?
Ich möchte etwas aus meinen Fähigkeiten machen können. So gesehen bin ich wohl deutlich näher bei «Eddie the Eagle». Er hat auf dem Höhepunkt seiner Popularität einmal gesagt, ihm bedeute die Einladung zu einem grossen Fussballspiel wenig. Er wolle lieber selber spielen. Auch für mich gibt es wohl keine bessere Auszeit, als ins obere Toggenburg zu fahren und dort handwerklich anzupacken. Solche Tätigkeiten stellen mich viel eher zufrieden als materielle Dinge. Ich hatte nie das Bedürfnis, einen tollen Schlitten zu fahren.
Welche beruflichen Ziele haben Sie eigentlich?
Ich versuche mich so zu organisieren, dass ich mein Betriebswirtschaft-Studium weiterführen und abschliessen kann. Eigentlich wäre ich am liebsten Ingenieur geworden. Aber irgendwann kommt es neben dem Sport halt zu einer Verlegenheitslösung (lacht). Danach weiss ich noch nicht genau, welche Möglichkeiten sich daraus ergeben. Das wird dann sicher auch auf einer ökonomischen Abwägung basieren.
Welches war die dümmste Frage, die Sie je beantworten mussten?
Lustig fand ich, als ich in vergangenen Jahren ab und zu gefragt wurde, ob ich überhaupt noch Sport mache. Aber das ist nicht die Antwort auf ihre Frage. Eine spezifische Frage kann ich zwar nicht nennen, aber: Skispringen hat in der Schweiz ein Nischendasein und entsprechend weiss der Fragesteller nicht immer genau, was aktuell läuft. Das erzeugt Situationen, wo man aus unserer Sicht Alltägliches erklären muss. In solchen Momenten würde man manchmal gerne eine Antwort ab Band einspielen (lacht).