Der Optimismus war spürbar. Nach einer langwierigen Viruserkrankung, dem tückischen Pfeifferschen Drüsenfieber, konnte Michelle Gisin im Sommertraining erstmals wieder uneingeschränkt Gas geben. Aufbruchstimmung bereitete sich vor dem Saisonstart bei der 31-jährigen Engelbergerin aus.
Sie fühlte sich stark – im Körper und im Kopf. Zumindest machte das den Anschein. «Ich will im Riesenslalom wieder komplett den Anschluss schaffen», formulierte sie eines ihrer Ziele für den aktuellen Winter. Es ist die einzige Disziplin, in welcher Gisin seit ihrem Skiwechsel zu Salomon vor zwei Jahren noch auf ein Top-10-Resultat wartet.
Beeindruckende 115-mal bei 285 Weltcupstarts gehörte sie in ihrer Karriere im Ziel zu den besten zehn der Welt. Die Innerschweizerin ist eine der wenigen Athletinnen mit Podestplätzen in fünf verschiedenen Disziplinen (Abfahrt, Super-G-, Riesenslalom, Slalom und Kombination).
Doch aktuell ist von dieser Zuversicht fast nichts mehr zu spüren, auch wenn der 17. Rang am Samstag in der Abfahrt von Garmisch mit nur 1,27 Sekunden Rückstand auf Siegerin Brignone einen Hauch von Entspannung auf ihr Gesicht zauberte. Bis zur ersten Zwischenzeit war Michelle Gisin gar die Schnellste.
Ansonsten folgen die Auftritte der 31-Jährigen zwei sich wiederholenden Mustern, dies sich auch beim sonntäglichen Super-G in Garmisch fortsetzten. Entweder begeht die routinierte Athletin in einem an sich guten Rennen einen grossen, zeitraubenden Fehler. Oder Gisin baut im Verlauf eines Laufs immer mehr ab. «Es ist bislang eine wirklich sehr schlechte Saison. Abgesehen von einem guten Wochenende in Beaver Creek praktisch null Resultate», sagt sie selbstkritisch.
Gisin analysiert die Negativspirale, in die sie zweifellos geriet: «Ich stieg mit sehr hohen Erwartungen in die Saison und begann an vielen Details zu schrauben, als es nicht lief wie erhofft. Ich habe mich vielleicht ein wenig in diesen Details verloren. Als die Resultate ausblieben, begann ich mich sicherlich auch ein wenig zu verkrampfen. Fast schon absehbar, dass ich mit all diesen Energieräubern zuletzt auch noch krank wurde.»
Es ist Michelle Gisin hoch anzurechnen, dass sie auch in schwierigen Situationen und nach schlechten Resultaten zu ihren Darbietungen Stellung nimmt. Dass sie dabei oft den positiven Ansatz sucht, wird ihr in den sozialen Medien indes mit teilweise unterirdischen Kommentaren vorgeworfen. Das geht auch an ihr nicht spurlos vorbei: «Ich finde es nicht lustig, wenn ich von aussen kritisiert werde, ohne dass diese Menschen wissen, was hinter dem Fernsehbildschirm vorgeht. Das lässt mich alles andere als kalt. Es ist oft faszinierend, für was alles ich mich erklären muss. Personen von aussen haben offensichtlich bei mir den Eindruck, als könne man mich mit allem konfrontieren. Wohl, weil ich ein sehr offener Mensch und sehr umgänglich bin.»
Auch in Garmisch erklärt sich die zusammen mit ihrem Verlobten, dem italienischen Riesenslalomfahrer Luca De Aliprandini, am nördlichen Ende des Gardasees wohnende Gisin auf nüchterne Art zum ausbleibenden Erfolg. Doch ihr Seelenleben behält sie dabei für sich. Ihre Tränen abseits des Trubels sprechen eine andere Sprache als ihre Worte. Dass ihr Bruder Marc, Rennchef bei Stöckli und einer ihrer engsten Vertrauten, am Wochenende der Männer-Abfahrt von Kitzbühel mit mehreren Siegesanwärtern auf seinen Ski, in Garmisch im Zielbereich seiner Schwester vor Ort die Daumen drückt und sie aufmuntert, spricht Bände.
Muss man sich sogar Sorgen machen, dass man Michelle Gisin eher früher als später nicht mehr im Renneinsatz sehen wird? Dass der als Befreiung dargestellte Verzicht auf den Slalom nach Flachau vielmehr der Beginn eines Abschieds in Raten ist? Immerhin hat die Obwaldnerin bereits vor der Saison gesagt, ihr Karriereende sei absehbar.
Dagegen sprechen sportliche Verlockungen. Im nächsten Winter finden die Olympischen Winterspiele in ihrer zweiten Heimat Italien statt. In zwei Jahren wird an der Heim-WM in Crans-Montana um Medaillen gekämpft. Wie beurteilt sie die Situation? Auf die Frage nach den bevorstehenden Highlights weicht sie aus: «Irgendwo muss man sich bewusst sein, dass wir jedes Mal viel riskieren, wenn wir diese Pisten herunterfahren. Es ist gefährlich, es ist alles andere als einfach. Irgendwann kommt der Moment, in welchem ich sagen werde, das war es. Ich freue mich auch auf sehr viel, was nach meiner Karriere kommen wird.»
Die feinfühlige, reflektierte Sportlerin kämpft noch mehr als andere mit den vielen üblen Stürzen im Skirennsport. Sie gehen ihr nahe und die Voraussetzung für den Erfolg, solche Dinge ausblenden oder zumindest verdrängen zu können, gelingt nicht immer. «Es ist ein sehr unberechenbarer Sport. Wir fahren stets am Limit. Wenn man es mit der Brechstange versuchen will, dann passieren Fehler», sagt sie. Doch aufgeben scheint definitiv noch nicht ihr Ding zu sein. «Ich kämpfe ebenfalls sehr mit den ausbleibenden Resultaten. Es ist extrem intensiv. Ich gebe jedes Wochenende alles», sagt sie.
Aber auch Michelle Gisin weiss: Sollten die Resultate weiterhin unter ihren Erwartungen bleiben, dann macht das so keinen Spass mehr. Eher früher als später. Wie sagte die 31-Jährige nach der Abfahrt von Garmisch: «Ich muss die heutige Leistung sehr positiv nehmen.» Müssen tut sie eigentlich nichts mehr.
Immerhin profitiert Michelle Gisin nach dem Speed-Wochenende von Garmisch erstmals davon, nicht mehr im Slalom anzutreten. Anstatt zum Weltcup nach Courchevel reist sie in ihr Haus nach Riva del Garda. Seit langem stehen wieder einmal vier Tage zuhause an. Ihr Programm? Koffer auspacken, Wäsche machen, relaxen und … «mein Leben wieder etwas in Ordnung bringen». (aargauerzeitung.ch)
Dass sie uns tolle Erfolg schenkte, und zwar zu Zeiten, als es harzte in der Skination Schweiz... vergessen.
Krise... darf man nicht haben...
Ich hoffe sie kommt zurück an die Spitze. Und wenn nicht, danke für die tollen Erfolge