Wenn die Nummern 1, 2, 4, 5, 6 und 7 der Setzliste in den Viertelfinals stehen, deutet das nicht auf ein Turnier der Sensationen hin. Von den heissesten Anwärtern auf den Gewinn des Australian Open hat es in den ersten vier Runden einzig Dominic Thiem erwischt. Der US-Open-Sieger 2020 unterlag körperlich angeschlagen Grigor Dimitrov (18). «Ich bin auch keine Maschine», erklärte der Österreicher.
Der Bulgare Dimitrov wird in seinem Viertelfinal auf die grosse Sensation am Yarra River treffen: Aslan Karazew. Der Russe ist bloss die Nummer 114 der Weltrangliste und schaffte es als erster Qualifikant seit 25 Jahren in die Viertelfinals eines Grand-Slam-Turniers. Den an Nummer 8 gesetzten Diego Schwartzman warf Karazew in drei Sätzen raus, gegen Felix Auger-Aliassime (20) siegte er nach 0:2-Satzrückstand.
Während Sternschnuppen plötzlich auftauchen und rasch verglühen, stehen die wahren Sterne lange am Himmel. Und die grössten davon – in Abwesenheit von Roger Federer – strahlen auch in Melbourne besonders hell. Rafael Nadal deshalb, weil der Spanier trotz anfänglicher Rückenprobleme ohne Satzverlust in die Viertelfinals einzog. Und Novak Djokovic, weil sich der Rest der Tennis-Welt wieder einmal über den Serben nervt.
«Für den Zuschauer kam das irgendwie seltsam rüber», sagte Nadal über das Verhalten seines grössten Rivalen beim Sieg über Taylor Fritz. Djokovic liess sich während des Matches behandeln, befürchtete gar eine Bauchmuskelzerrung – und siegte dann doch noch in fünf Sätzen. «Wäre er wirklich verletzt, hätte er nicht weitergespielt», sagte der unterlegene Amerikaner Fritz und spielte darauf an, dass Djokovic in der Vergangenheit schon oft in den Verdacht geriet, ein «Medical Timeout» eher aus taktischen denn medizinischen Gründen zu nehmen.
Tags darauf liess sich Djokovic röntgen und stellte fest: So schlimm ist die Verletzung offenbar doch nicht. Im Achtelfinal nahm sich die Weltnummer 1 den Kanadier Milos Raonic vor – und schlug ihn in vier Sätzen. Es war der 300. Sieg an einem Grand-Slam-Turnier, nur Roger Federer (362) hat an den vier wichtigsten Anlässen des Jahres noch mehr Spiele gewonnen. «Ich weiss nicht, ob er tatsächlich verletzt ist», sagte der Grieche Stefanos Tsitsipas nach der Blitz-Heilung des «Djokers».
Er habe sich keine Minute auf das Match vorbereitet, sagte Djokovic nach seinem mühelosen Sieg über Raonic. «Ich habe die gesamte Zeit genutzt, um mich zu erholen. Wenn es kein Grand-Slam-Turnier wäre, wäre ich gar nicht mehr angetreten.» Die Lage sei nach wie vor nicht ideal. «Ich nehme es Tag für Tag und hoffe, dass es in einigen Tagen wieder besser sein wird.»
Weiter ging am Wochenende auch Djokovics Privatfehde mit den beiden Australiern Nick Kyrgios und Thanasi Kokkinakis. Bei einer Doppelpartie der beiden Aussies äffte Kyrgios zum Gaudi der Fans die emotionale Jubelgeste von Djokovic nach seinem Sieg gegen Fritz nach. Und hinterher an der Medienkonferenz betonte er: «Djokovic mag mich nicht – aber ich mag ihn ganz und gar nicht.»
Der Nebenschauplatz Kyrgios gegen Djokovic erinnert stark an Wrestling. Dort inszenieren die Macher eine Show zwischen Gut und Böse. Wem im Tennis die Rolle des Buhmanns gehört, ist längst klar – ganz egal, wie gut dieser spielt und wie oft er siegt.
Im Viertelfinal trifft Novak Djokovic nun mit Alexander Zverev auf einen, mit dem er auskommt. Der Deutsche war im Sommer Teilnehmer der umstrittenen, von Djokovic organisierten Adria-Tour. Der Serbe blickt dem Duell freudig entgegen: «Sascha und ich verstehen uns auch abseits des Platzes sehr gut. Er ist ein toller Typ. Wir haben gestern Witze gemacht, weil wir ähnliche Verletzungen haben. Er hat gesagt, dass wir vielleicht ohne Aufschlag spielen werden.»