Daumen drückend blickt Jonathan Pierce an diesem Mittwochabend im Wembley auf den Rasen. Mit den Worten «Gareth Southgate, the whole of England is with you», begleitet der Radioreporter den englischen Verteidiger zum Penaltypunkt.
Southgate ist der sechste Schütze im EM-Halbfinal gegen Deutschland. Er kann vorlegen, den Erzrivalen unter Druck setzen. Aber sein Schüsschen wird zur Beute von Keeper Andy Köpke. «Oh, it's saved!», ruft der Radioreporter ins Mikrofon und man kann förmlich hören, wie er die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Andreas Möller versenkt seinen Penalty und es kommt, was die Fussballgötter schon vor Urzeiten festgelegt haben müssen: England verliert das Penaltyschiessen.
Englands Traum vom Titel ist ausgeträumt. 30 Jahre nach dem Triumph im WM-Final, 30 Jahre nach dem glorreichen Sieg über Deutschland mit dem bis in alle Ewigkeiten umstrittenen Wembley-Goal, verpassen die Engländer den nächsten Titelgewinn.
Die Halbfinal-Begegnung hat alles, was ein Fussballspiel braucht. Schon in der dritten Minute bringt Goalgetter Alan Shearer sein Team in Front und das Stadion zum Kochen. Aber Deutschland gleicht nach einer Viertelstunde durch Stefan Kuntz aus und bei diesem 1:1 bleibt es trotz beidseits guten Möglichkeiten. So muss die Lotterie aus elf Metern über den Finaleinzug entscheiden.
Zehn Spieler laufen an, alle zehn treffen. Deshalb muss nach den vorbestimmten Schützen nun Gareth Southgate den langen Weg von der Mittellinie in den Strafraum antreten. «Der sanfteste Abwehrspieler, den England hat», sagte Trainer Terry Venables über den 25-Jährigen. Er kann diesen Eindruck nicht aus der Welt räumen.
Zwar holt Southgate sechs, sieben Meter Anlauf. Doch anstatt hart zu schiessen, schiebt er den Ball mit dem Innenrist flach und unplatziert in Richtung Tor. England durchlebt wieder sein Penalty-Trauma, sechs Jahre nach dem Aus im WM-Halbfinal ebenfalls gegen Deutschland.
«Nichts kann diesen Fehler wettmachen», sagte Southgate vier Jahre nach dem Fehlschuss der Berliner Zeitung. Er müsse mit ihm leben. Die Szene sei noch immer das erste, auf das ihn Leute ansprechen würden. Doch Southgate überwand den Frust schnell. Er erhielt sehr viel Zuspruch aus der Bevölkerung, ganz England schien ihn trösten zu wollen. «Eine Familie, deren Kind ermordet wurde, schrieb mir, ich sollte mich wegen des blöden Penaltys nicht grämen, wir hätten ihnen mit unserem Fussball so viel Freude bereitet», erinnert sich der Unglücksrabe. Man habe ihm zu spüren gegeben, dass es wichtigeres im Leben gebe, als einen verschossenen Penalty.
Und dann gab es noch die Geschichte mit der Pizza-Werbung. Sie zeigte exemplarisch, wie man auch mit Niederlagen umgehen kann: nämlich mit typisch britischem Humor. Mit einer braunen Tüte über dem Kopf isst Gareth Southgate anonym Pizza und wird dabei von zwei Kollegen am Tisch veralbert: von Stuart Pierce und Chris Waddle, die 1990 vom Penaltypunkt aus versagten.
Southgates Karriere tat der Fehlschuss keinen Abbruch. Er lief 57 Mal für England auf und wäre auch bei allfälligen weiteren Penaltyschiessen bereit gestanden. «Ich würde mich nicht drücken», sagte der jetzige Nationaltrainer Englands einst. «Aber ich glaube kaum, dass irgendjemand in meinem Team will, dass ich einen Penalty schiesse.»
Die Euro 1996 bleibt nicht nur wegen dieser Szene in Erinnerung. Die Stadien sind voll, die Atmosphäre ist berauschend, Paul Gascoigne schiesst ein Supertor gegen Schottland und zelebriert es mit einem «Säufer-Jubel», der um die Welt geht – und die neue Fussballhymne ist geboren: «Three Lions (Football's Coming Home)».
Auf dem Höhepunkt des Britpop kommen die Lightning Seeds gemeinsam mit dem Komikerduo Baddiel/Skinner zum Handkuss, weil die EM-Organisatoren nicht in den damals herrschenden «Krieg» zwischen Oasis und Blur eingreifen wollen. Der Song handelt vom grossen Traum der Engländer, 30 Jahre nach dem WM-Titel endlich wieder einen Pokal zu holen.
«Three Lions» schiesst auch zwei Jahre später in der Neuauflage auf Platz 1 der englischen Charts. Wobei Penalty-Versager Southgate die «Ehre» zuteil wird, den Song zu eröffnen. In die ersten Akkorde hinein hört man Radioreporter Pierces flehendes «Gareth Southgate, the whole of England is with you ...»
PS: Zwischenzeitlich schien es fast so, als hätte England seinen Penaltyfluch mittlerweile abgelegt. An der WM 2018 siegten die «Three Lions» gegen Kolumbien und im kleinen Final der Nations League 2019 gegen die Schweiz aus elf Metern. Doch im EM-Final 2021 gegen Italien schlug der Fluch einmal mehr im Wembley zu. Trainer: ein gewisser Gareth Southgate.