Die moderne Medizin ist ohne den Zufall nicht denkbar. Als der Brite Alexander Fleming 1928 das lebensrettende Penicillin entdeckte, kam ihm seine Zerstreutheit zu Hilfe. Er war in die Sommerferien gefahren und hatte einige Petrischalen mit Bakterienkulturen liegen gelassen. Nach seiner Rückkehr ins Londoner St. Mary's Hospital staunte er: In einigen Schalen hatte sich ein grüner Schimmelpilz gebildet, der Bakterien zerstörte. Es handelte sich um Penicillin. Mit dieser Entdeckung war das Zeitalter der Antibiotika eingeläutet. Penicillin & Co. retten seither jedes Jahr Millionen von Menschenleben.
Mittlerweile hilft die Pharmaindustrie dem Zufall auf die Sprünge. Sie greift auf Unmengen Daten zurück, um vernachlässigte Krankheiten und neue Wirkstoffe zu identifizieren. Die Fülle an Informationen ist dank der Digitalisierung beinahe grenzenlos:
Elektronische Patientendossiers zeigen den individuellen Krankheitsverlauf. Die Smartwatch liefert medizinische Details aus erster Hand. DNA-Analysen können ein spezifisches Profil eines Tumors erstellen und die Therapie personalisieren. Die Familienhistorie gibt Aufschluss über Häufungen in der Verwandtschaft. Weltweite Statistiken und Literaturanalysen zeigen auf, welche Krankheiten noch unterversorgt sind. Und sogar Diskussionen in den sozialen Medien zwischen Patienten können auf bisher zu wenig beachtete Nebenwirkungen hinweisen.
Um aus all diesen Datenpunkten bisher verborgene Muster herauszulesen und neue Ansätze für Medikamente zu entdecken, braucht es leistungsfähige Systeme. Hier verspricht die Künstliche Intelligenz (KI) eine Revolution in Forschung und Entwicklung. Doch dafür müssen zuerst die nötigen Daten bereitstehen, wie Roche-Verwaltungsratspräsident Severin Schwan im aktuellen Jahresbericht des Basler Pharmariesen betont: «Damit KI ihr volles Potenzial entfalten kann, braucht es Daten.» Erst so könnten die «völlig neuen Chancen für Diagnostik und Behandlung» genutzt werden.
Konkrete Beispiele für diese neuen Chancen nennt Anna Bauer-Mehren im Gespräch mit der «Schweiz am Wochenende». Sie ist Bioinformatikerin und hat jahrelange Erfahrung in der Medikamentenentwicklung. Mittlerweile leitet sie bei Roche ein Team in der Diagnostiksparte, das sich mit Algorithmen und Datenanalyse befasst.
«Dank eines Algorithmus können wir heute beispielsweise viel früher und akkurater das Risiko für Darmkrebs voraussagen», sagt Bauer-Mehren. Das sei entscheidend, um rasch zu handeln. Denn bei diesem Krebs zähle bei der Diagnose für Patienten jeder Tag.
Dasselbe bei vermutetem Herzinfarkt in der Notaufnahme: Neuartige, auf Algorithmen basierende Tests helfen den Ärzten, eine Triage vorzunehmen. So kann bei Patienten, die Brustschmerzen haben, schneller ein Herzinfarkt erkannt und behandelt werden. Gleichzeitig können Patienten, die mit ziemlicher Sicherheit keinen Herzinfarkt haben, weiter untersucht werden. Das spart Kosten und verhindert eine Überbelegung der Notaufnahme.
Bei der Medikamentenwicklung greift Roche ebenfalls auf riesige Datensätze zurück. «Grundsätzlich gilt: Je mehr, desto besser», sagt Bauer-Mehren. Es brauche grosse Mengen aggregierter und anonymisierter Daten, um ein verlässliches Ergebnis zu erhalten. Umso wichtiger sei aber die Qualität – sonst seien die Daten nicht verwendbar und somit wertlos.
Vorreiter in diesem Geschäft sind die USA. Dort gibt es unzählige Anbieter, die Datensätze verkaufen. Roche übernahm vor sieben Jahren mit dem US-Krebsdatenspezialisten Flatiron eine solche Firma gleich selbst. Das liess sich der Konzern über 1,5 Milliarden Franken kosten. Laut eigenen Angaben verfügt Flatiron über Daten von fünf Millionen Patienten.
Der Basler Pharmakonzern häuft aber auch eigene Datenschätze an. Forscherinnen und Forscher trainieren bei ihrer Suche nach neuen Wirkstoffen KI-Modelle, um die vielversprechendsten Kandidaten zu eruieren.
Roche füttert dazu seine KI mit einer Vielzahl an internen Daten. Diese stammen aus den Labor-Experimenten wie aus den klinischen Studien. Die KI schlägt dann neue Kombinationen von Molekülen vor. Und sie nennt Krankheiten, die man damit behandeln könnte. Die so generierten Daten speist Roche wiederum in den Kreislauf ein.
Dieser sogenannte «Lab-in-the-Loop»-Ansatz, bei dem die KI so noch bessere Vorhersagen macht, soll dazu beitragen, die Medikamentenentwicklung zu beschleunigen. Er soll auch die Zahl der Fehlschläge reduzieren. 90 Prozent der Wirkstoffkandidaten scheitern in den klinischen Studien. Die Arbeit von zehn Jahren Forschung kann sich so innert Kürze in Luft auflösen.
«Wir nutzen erst einen Bruchteil dieses Potenzials», stellt Anna Bauer-Mehren fest. Insbesondere die EU müsse rasch handeln und den Zugang zu Daten regeln. Die Roche-Spezialistin anerkennt, dass der Datenschutz dabei «super-sensitiv» sei und höchste Priorität geniessen müsse. Sie versichert, dass man gar keine privaten Details der Menschen anzapfen wolle, sondern lediglich an der sogenannten Sekundärnutzung der Daten interessiert sei. Also an grossen Datenmengen, in denen Muster und Trends erkennbar sind. Zudem sei es wichtig, den Patienten die Möglichkeit des «opt-out» zu geben. So könnten sie selbst entscheiden, ob sie ihre anonymisierten Daten teilen möchten.
Bis hierzulande Patienten darüber entscheiden können, wird es noch dauern. «Die Schweiz hinkt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens massiv hinterher», sagt René Buholzer, Geschäftsführer des Verbands Interpharma. Dies zeigt sich exemplarisch beim Elektronischen Patientendossier. Noch besitzt kaum jemand in der Schweiz eine solche elektronische Akte. Immerhin: Der Bundesrat hat eine umfassende Gesetzesrevision angestossen. Dafür ist Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider sogar nach Spanien gereist, um sich Rat bei einem Vorzeige-Land zu holen.
Ein Teil der Revision behandelt die Frage, inwiefern die Forschung die Patientendossiers nutzen darf. Damit betritt der Bundesrat Neuland. Aktuell gibt es in der Schweiz noch keine Grundlage für die sogenannte Sekundärnutzung von Daten, sei es aus dem Gesundheits-, Energie-, Umwelt- oder dem Mobilitätssektor. «Wir müssen hier dringend vorwärtsmachen, um nicht den Anschluss zu verlieren», sagt Buholzer.
Für den Standort Schweiz sei der Umgang mit Daten entscheidend. Buholzer ist überzeugt, dass sich die Pharmaindustrie an der Schwelle zu einer neuen Ära befindet. Nach der chemischen und biotechnologischen Revolution in den letzten hundert Jahren steht für die Branche die nächste Zäsur an: das datengetriebene Zeitalter.
Und dieses kommt so rasch näher, dass die Schweizer Behörden nur mit Mühe Schritt halten können. Seit 2022 brütet der Bund über einem Rahmengesetz zur Sekundärdatennutzung. Die Wissenschaftskommission des Nationalrats forderte, man solle Daten aus ihren «Silos» befreien und in vertrauenswürdiger Weise der Forschung zur Verfügung stellen. Mittlerweile hat das Bundesamt für Justiz die Aufgabe übernommen, um hier Lösungen vorzuschlagen. Da es sich um sensible Informationen handelt und sich grundlegende Fragen zum Datenschutz stellen, dauert dies: Per Ende 2026 will das Amt eine Vernehmlassungsvorlage vorlegen.
Das dauert zwar selbst für behäbige Schweizer Verhältnisse lang. Doch Schnellschüsse dürften bei einem Vorhaben, bei dem es um heikle Daten geht, auch nicht helfen. Und selbst wenn die Pharma dereinst Zugriff auf Schweizer Daten bekommt, ist das allein noch kein Erfolgsgarant. Die Herausforderung wird sein, sie in ausreichender Menge und Qualität aufzubereiten.
Das musste gerade Pharmariese Roche schmerzlich erfahren. Beim zugekauften Krebsdatenspezialisten Flatiron sah sich der Konzern letztes Jahr nicht nur zu einer Restrukturierung gezwungen. Er erkannte auch, dass der Wert des für 1,5 Milliarden Franken gekauften Unternehmens weniger hoch ausfällt als angenommen. Roche musste eine Milliarde Franken abschreiben. Offenbar konnte Flatiron seine hochtrabenden Digitalisierungsversprechen nicht einlösen.
Wo Millionen im Spiel sind, ist Betrug nicht weit…
Ich baue mir ne KI die Fake Patientendaten erstellt und verkaufe diese teuer…
Dies Kostet nicht nur Geld sondern under Umständen Menschenleben…