Die Schweiz war während des Zweiten Weltkrieges eine, wenn nicht sogar die wichtigste, Spionage-Drehscheibe in Europa. Über Bern surrte der Äther, denn die diplomatischen Vertretungen aller Länder betrieben auf dem exterritorialen Terrain ihrer Niederlassungen professionell ausgestattete Funkstationen. Besonders aktiv waren die kriegsführenden Nationen, die zeitweise ihre besten Funker und Dechiffrierer mit Diplomatenpässen hierher entsandten.
Doch ein Land konnte diesen «Krieg im Äther» nicht unter dem Deckmantel seiner diplomatischen Immunität betreiben: die Sowjetunion. Moskau hatte damals noch keine diplomatischen Beziehungen zur Schweiz und war damit – wollte sie den ertragreichen Nachrichtenmarkt im kriegsneutralen Land nutzen – genötigt, versteckte Funkanlagen zu installieren und ihr geschultes Personal einzuschleusen.
Mit einem solchen Auftrag wurde auch die in Berlin geborene Ursula Maria Kuczynski 1938 von Moskau in die Schweiz entsandt. Zu diesem Zeitpunkt hatte die knapp 30-jährige Agentin schon einige Abenteuer hinter sich. In Shanghai war sie mit dem GRU-Meisterspion Richard Sorge in Verbindung gekommen, der sie für den sowjetischen Geheimdienst angeworben hatte. 1933 wurde die erst 22-jährige Ursula in Moskau von der Hauptverwaltung für Aufklärung (GRU) des sowjetischen Militärnachrichtendiensts rekrutiert. Dort erlernte sie das Metier einer Agentin und Funkerin.
Nachdem Kuczynski Mitte der 1930er-Jahre ihren ersten Auftrag in der Mandschurei erfolgreich ausgeführt hatte, wurde sie unter dem Namen Ursula Schultz in die Schweiz entsandt, um dort ein Spionagenetzwerk aufzubauen und Widerstandsgruppen für den Einsatz in Deutschland zu rekrutieren. Ihre Deckadresse war ein Chalet in Caux, oberhalb von Montreux. Ab 1940 setzte sie mit einem leistungsstarken Kurzwellen-Sender erste Funksprüche ab. Ihr Deckname: Sonia.
Einer ihrer ersten Agenten war der britische Spanienkämpfer Alexander Foote, den sie zum «Pianisten» ausbildete. So nennen sich die Funker im Agentenjargon, denn ähnlich den virtuosen Interpreten am Klavier hatten auch die ihren individuellen Rhythmus, den die Empfänger ihrer Morsezeichen eindeutig identifizieren konnten.
Ab 1938 war auch der konspirativ schon versierte ungarische Kartograf Sándor Radó in Genf tätig, der dort unter dem Deckmantel seiner Agentur Geopress als Leiter des sowjetischen Nachrichtendiensts in der Schweiz operierte. Sonia wurde seine Funkerin. Ihr gelang es Anfang 1940, die erste stabile Verbindung mit Moskau zu etablieren. Danach verliess sie die Schweiz und wurde eine der erfolgreichsten Agentinnen im Dienst der Sowjetunion.
Ihr Nachfolger im berühmt gewordenen Funk-Dreieck «Rote Drei» am Genfersee wurde der «Pianist» Alexander Foote (Deckname Jim), der für die Gruppe Radó (Deckname Dora) Nachrichten absetzte. In einer zweiten Gruppe agierte die polnisch-deutsche Widerstandskämpferin Rachel Dübendorfer, Deckname «Cissy». Eine weitere Zelle der Roten Drei trug den Namen des Schweizer Journalisten Otto Pünter (Deckname Pakbo).
Von den drei leistungsfähigen Kurzwellensendern stand einer in Lausanne, von Alexander Foote bediente, und zwei weitere in Genf, von wo aus die Schweizer Funker Edmond und Olga Hamel (Decknamen Eduard & Maud) sowie die angelernte Baslerin Margrit Bolli (Deckname Rosa) verschlüsselte Nachrichten nach Moskau absetzten. Das täglich frische Material lieferte der in Luzern lebende deutsche Emigrant Rudolf Rössler (Deckname Lucie). Die Quellen seiner äusserst zuverlässigen Informationen sind bis heute nicht geklärt. Laut Rösslers Angaben nach dem Krieg stammten sie von hochrangigen Militärs, die gegen die Nazis eingestellt waren.
Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einfiel, war die Rote Drei einsatzbereit. Von der ersten Stunde an informierten ihre Funksprüche den sowjetischen Generalstab über die Kriegsführung der Wehrmacht. «Dora an Direktor, Dora an Direktor» – fast pausenlos jagten sie ihre Meldungen und Warnungen durch den Äther. Oft sass Alexander Foote mehr als fünf Stunden in der Nacht an seinem Gerät; er konnte die Papierstösse kaum noch bewältigen.
In seinen Erinnerungen «Handbuch für Spione» schreibt Alexander Foote 1954:
«Die beiden Hauptwidersacher unserer Organisation waren naturgemäss die deutsche Abwehr und die Schweizer Bundespolizei. Die erstere, weil die Tätigkeit des Netzes sich direkt gegen das Dritte Reich richtete; die letztere, weil diese Tätigkeit eine Verletzung der schweizerischen Neutralität bedeutete. Die deutsche Abwehr war natürlich besonders darum bemüht, unsere Organisation zu penetrieren und zu liquidieren. Die Schweizer waren bereit, in Aktion zu treten, sobald sie ausreichende Beweise hatten. Sie waren aber nicht bereit, von ihrem gewöhnlichen Verfahrensweg abzuweichen und ein nachrichtendienstliches Netz zu zerschlagen, solange sie glaubten, es arbeite für die Demokratien.»
Über zwei Jahre lang blieben die Kurzwellensender der Roten Drei von der Bundespolizei und den militärischen Instanzen unbehelligt. Vielleicht hätte man gar nichts unternommen, hätte nicht die deutsche Abwehr nachhaltig interveniert, denn der rege Verkehr war den in- und ausländischen Funkhorchdiensten längst aufgefallen. Doch die Lokalisierung der Sender war Sache der Schweiz.
Zur Durchführung der Aktion bildete die schweizerische Spionageabwehr eine besondere Funktruppe. Die Gruppe erhielt drei für die Nahpeilung geeignete Geräte, welche auf Fahrzeugen montiert waren. Anfang Oktober 1943 stellten sich die Schweizer Funker in einem grossen Dreieck an verschiedenen Punkten der Genfer Vorstädte auf und ermittelten die fremden Morsezeichen. Die Peilgeräte zeigten sofort die Wellenbänder und die ungefähren Richtungen zu den illegalen Sendern an. Nun ging es darum, den genauen Standort zu ermitteln. Die Peilfahrzeuge setzten sich langsam in den Strassen Genfs in Bewegung und näherten sich von drei Seiten dem durch die Apparate bezeichneten Punkt.
Zwei Wochen darauf wusste man ungefähr, wo die Genfer Sender arbeiteten: Der eine in der Umgebung der Route de Florissant, der andere im dicht bewohnten Zentrum der Stadt, vermutlich in der Rue Henri Mussard. Zuletzt wurden Soldaten in Zivil mit einem Koffer-Peilgerät zur Nahfeldpeilung in die Wohnhäuser geschickt. Die «Stimme» der Sender wurde nun immer deutlicher, bis die Armeefunker zuletzt vor einer Wohnungstür standen.
So auch einige Wochen darauf in Lausanne: In der Nacht vom 19. auf den 20. November 1943, eine halbe Stunde nach Mitternacht, stellte Foote die Verbindung mit Moskau her. Er gab eine kurze Meldung durch und begann dann, einen langen Spruch, den die Zentrale für ihn hatte, aufzunehmen. Eine Dreiviertelstunde später ertönte an der Wohnungstür ein splitterndes Krachen – nun war es also so weit.
Immerhin, bis die Polizisten nach etwa drei Minuten in der Wohnung waren, gelang es ihm, den Sender unbrauchbar zu machen und die wenigen Unterlagen, die er besass, in einem grossen, extra zu diesem Zweck bereitgestellten Aschenbecher zu verbrennen. Mit Footes Verhaftung war die letzte Verbindung zwischen der Zentrale und der Schweiz abgerissen.