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Meisterspion Lucie

Gesuch von Rudolf Rössler zur Ausstellung eines Identitätsausweises, 1938.
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Gesuch von Rudolf Rössler zur Ausstellung eines Identitätsausweises, 1938.Bild: Schweizerisches Bundesarchiv

Meisterspion Lucie

Rudolf Rössler war ein introvertierter Literat, der in Luzern einen Verlag leitete. Gleichzeitig versorgte er die Sowjets mit brisanten Informationen aus dem Führerhauptquartier. Die Geschichte des Meisterspions Lucie.
16.01.2022, 18:43
Gabriel Heim / Schweizerisches Nationalmuseum
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Am 16. Januar 1967 prangte der staatenlose Rudolf Rössler auf der Titelseite des Spiegel. Da war er schon seit neun Jahren verstorben, und so bescheiden, wie er gelebt hatte, war er beerdigt worden: in einem einfachen Grab in Kriens bei Luzern. Hätte er nicht ein bis heute verschlüsseltes Geheimnis dahin mitgenommen, kaum jemand hätte je wieder Notiz von diesem stillen Mann genommen, der unter dem Decknamen «Lucie» zum wertvollsten Informanten der Sowjetischen Generalität im Zweiten Weltkrieg avancierte.

Rössler, der von seinen Jugendfreunden als Schwärmer und Schöngeist bezeichnet wurde, konnte weder ein Funkgerät bedienen noch morsen. Lediglich sein stets zu weit geschnittener Regenmantel und der tiefsitzende Hut mochten entfernt an das Klischee eines Spions erinnern.

Rudolf Rössler schaffte es 1967 auf die Titelseite des deutschen Magazins «Der Spiegel».
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Rudolf Rössler schaffte es 1967 auf die Titelseite des deutschen Magazins «Der Spiegel».Bild: DER SPIEGEL 4/1967
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Als überzeugter Gegner der Nationalsozialisten zieht Rössler 1933 auf Empfehlung seines Schweizer Freundes Xaver Schnieper von Berlin nach Luzern und übernimmt dort den humanistischen Verlag vita nova, zu dessen Programm Autoren zählen, die nun im «Reich» verfemt sind. Dass ihm ein anderes Leben – ein Doppelleben – bevorsteht, ahnt der damals 35-jährige Rössler nicht.

Xaver Schnieper, aufgenommen 1967.
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Xaver Schnieper, aufgenommen 1967.Bild: Sozialarchiv Zürich

Wenige Jahre später werden seine Zuträger im Oberkommando der Wehrmacht, in der Heeresleitung, im Reichsluftfahrtministerium im Heereswaffenamt oder im Auswärtigen Amt ihn dazu befähigen, Moskau rechtzeitig über die von Hitler am 1. Juli 1943 befohlenen «Entscheidungsschlacht» mit 3000 Panzern und 42 deutschen Divisionen am Kursker Bogen zu unterrichten. Der Roten Armee gelingt es, den deutschen Grossangriff kriegsentscheidend abzuwehren. Die Ankündigung der Kursk-Offensive war nur eine von Tausenden von Nachrichten, die zwischen 1941 und Ende 1943 von Berlin über Luzern nach Moskau gelangten.

Die Panzerschlacht von Kursk wurde durch Informationen von «Lucie» beeinflusst.
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Die Panzerschlacht von Kursk wurde durch Informationen von «Lucie» beeinflusst.Bild: Wikimedia

Wie war es dazu gekommen, dass ein stiller, in sich gekehrter Literat zur wichtigsten Schaltstelle im Netzwerk der Sowjetspionage werden konnte?

1939 erhält Rudolf Rössler Besuch von zwei jungen deutschen Generalstabs-Offizieren. Sie berichten ihm vom bevorstehenden Überfall auf Polen. Rössler hört ihnen zu, sie vertrauen sich ihm an: «Wir geben dir alle Informationen über militärische Operationen. Wir betrachten dich als unser Gewissen. Tu mit den Informationen, was du willst. Hitler muss den Krieg verlieren», erinnert sich Rössler später.

In der Folge ringt er sich dazu durch, als Agent gegen Hitler-Deutschland zu arbeiten – allerdings zunächst nur für den Schweizer Nachrichtendienst (ND). Dieser war zu Beginn des Krieges weder an Spionage noch an Nachrichten interessiert und von seinem Chef, Oberstleutnant Masson, eher stiefmütterlich behandelt, was dazu führte, dass sich ein junger patriotischer Offizier namens Hans Hausamann der militärischen Nachrichtenbeschaffung annahm und teils mit eigenen Mitteln einen Dienst aufbaute, der am Rand der militärischen Hierarchie weit effizienter agieren konnte.

Portrait von Oberstleutnant Roger Masson, Sektionschef im Generalstab, aufgenommen im Jahr 1936 in Bern.
Roger Masson, fotografiert im Jahre 1936.Bild: KEYSTONE/Photopress-Archiv/Str

1940 verlegt Hausamann sein Büro Ha nach Luzern-Kastanienbaum, von wo aus er etwa 80 Agentinnen und Agenten führte. Bereits vorher hat sich Rudolf Rössler dem Büro Ha angeschlossen. Später engagiert er mit Christian Schneider einen Übersetzer für seinen Verlag, den er an dessen Wohnort Genf wöchentlich mit Manuskripten versieht. Die beiden Männer freunden sich an, denn sie haben ähnliche politische Ansichten.

Rössler, der ab dem ersten Kriegsjahr mit zuverlässigen Informationen aus allen deutschen Heeresteilen beliefert wird, lässt seinen Genfer Vertrauensmann immer öfter daran teilhaben, indem er ihm kleine Zettel mit Angaben über Truppenbewegungen, Ausrüstungsstärken oder Rüstungsentwicklungen zukommen lässt. Vieles davon war für den Schweizer Nachrichtendienst und das Büro Ha nicht unmittelbar zu verwerten, sollte sich aber in kürzester Zeit für den in Genf agierenden Spionagering der Sowjets zu einer erstklassigen und bald auch unverzichtbaren Information entwickeln.

Hans Hausamann (rechts) gemeinsam mit General Guisan, um 1940.
Hans Hausamann (rechts) gemeinsam mit General Guisan, um 1940.Bild: Archiv für Zeitgeschichte: BA Fotosammlung Keckeis/ 47

Dora, Rosa, Maud, Eduard und Jim

Der Kopf dieses später als Rote Drei berühmt gewordenen Genfer Aussenpostens ist der Ungar Alexander Radolfi – Deckname Dora. Als Rudolf Rössler 1941 durch Vermittlung seines Mitarbeiters Schneider und der in Genf tätigen, polnischen Agentin Rachel Dübendorfer einwilligt, seine «Zettel» direkt an die Rote Drei zu liefern, hat Dora drei illegale Funkstationen in Genf und Lausanne in Betrieb.

Eine hat der Genfer Radiohändler Edmond Hamel (Deckname: Eduard) hinter einem Wandbrett in seiner Wohnung, Route de Florissant 192. Beim Funken und Verschlüsseln assistiert Ehefrau Olga (Deckname: Maud). Rado zahlt dem Ehepaar monatlich 1000 Franken. Das zweite Kurzwellengerät verbirgt sich in der Genfer Rue Henry Mussard 8. Die dort wohnhafte Kellnerin und Radolfi-Geliebte Marguerite Bolli (Deckname: Rosa) hat ihre Funkstation in einem Plattenspieler versteckt. Der dritte Apparat steht in Lausanne, Chemin de Longeraie 2. Den hatte der englische ehemalige Spanienkämpfer Alexander Foote (Deckname: Jim) in seine Schreibmaschine eingebaut.

In Lausanne gehen auch die Aufträge an Lucie ein. Am 9. November 1942 beispielsweise: Wo befinden sich die rückwärtigen Abwehrstellungen der Deutschen auf der Linie südwestlich Stalingrads und entlang des Dons? Am 16. Februar 1943: Sofort durch Lucie erfahren, ob Wjasma und Rschew evakuiert werden. Am 22. Februar 1943: Sofort Pläne des OKW betreffend Kommando Kluge feststellen. Am 9. April 1943: Welche Operationen bereitet das OKW im Frühling und Sommer 1943 vor, wo, mit welchen Zielen und mit welchen Kräften, welche Armeen?

Alexander Radolfi, auch bekannt unter dem Namen Rado, war ab 1938 Leiter des sowjetischen Nachrichtendienstes in der Schweiz.
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Alexander Radolfi, auch bekannt unter dem Namen Rado, war ab 1938 Leiter des sowjetischen Nachrichtendienstes in der Schweiz.Bild: Wikimedia

Lucie versorgte Moskau täglich mit dem neuesten Lagebild der deutschen Truppen an der Ostfront. Dazu Generaloberst Franz Halder, bis Herbst 1942 Hitlers Generalstabschef: «Nahezu alle deutschen Angriffshandlungen wurden unmittelbar nach ihrer Planung im Oberkommando der Wehrmacht, noch ehe sie auf meinem Schreibtisch landeten, dem Feinde durch Verrat eines Angehörigen des OKW bekannt. Diese Quelle zu verstopfen ist während des ganzen Krieges nicht gelungen», was die Titelgeschichte des Spiegel 1967 dazu veranlasst hatte festzustellen:

Von «Werther» wie von «Olga», von «Teddy» wie von «Anna» und etwa 200 weiteren [in Deutschland platzierten] Agenten liefen die Fäden zu «Lucie» in Luzern und «Dora» in Genf. Dort wurden die Nachrichten aus dem Deutschen Reich und seinen Stäben gesammelt. «Lucie» und «Dora» wussten en Gros und en Detail mehr über die deutschen Armeen als irgendein einzelner deutscher General.

Franz Halder auf einer Fotografie von 1939.
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Franz Halder auf einer Fotografie von 1939.Bild: Wikimedia

Als sich gegen Ende 1943 die Deutsche Niederlage abzeichnete und Bern sich wieder vermehrt auf die Tugend der Neutralität besinnen musste, entschloss sich die Bundesanwaltschaft, das Netz von Rado und Konsorten ausheben zu lassen. Die Sowjet-Agenten Foote, Dübendorfer, Böttcher, Schneider, Bolli und das Ehepaar Hamel wurden verhaftet. Rado tauchte unter. Rudolf Rössler hingegen blieb unbehelligt, denn für den ND und das Büro Ha waren seine Kontakte weiterhin wertvoll, obwohl er als Agent der Sowjets auch noch bei Kriegsende auf der «falschen Seite» stand.

Dort sollte der nach wie vor unscheinbare Mann auch weiterhin bleiben. Gemeinsam mit seinem Lebensfreund Xaver Schnieper, Linkskatholik und damals noch Mitglied der Partei der Arbeit, kundschaftete er im Auftrag des tschechischen Geheimdiensts in den ersten Jahren des Kalten Krieges militärische Geheimnisse in der Bundesrepublik aus. Das ging nicht lange gut. Am 5. November 1953 verurteilte ihn das Bundesstrafgericht zu zwölf, Schnieper zu neun Monaten Gefängnis. In der Urteilsbegründung bescheinigt das Gericht dem deutschen Emigranten Rössler immerhin, dass er der Schweiz wesentliche Dienste erwiesen habe.

Rudolf Roessler, links, und Xavier Schnieper, Mitte, die beiden Angeklagten in einem Spionageprozess werden am 4. November 1953 zur Verhandlung des Bundesstrafgerichts ins Rathaus von Luzern, Schweiz, ...
Prozess gegen Rudolf Rössler (vorne) und Xaver Schnieper, 1953 in Luzern. Beide wurden zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt.Bild: KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCVHIV/Jules Vogt

Rössler sass seine Strafe ab und kehrte anschliessend nach Luzern zurück. Ein halbes Jahr vor seinem Tod hatte er dem 18-jährigen Sohn Schniepers die Namen seiner deutschen Gewährsleute aus dem Zweiten Weltkrieg verraten: «Wenn du ein reifer Mann bist und alle Lebenden tot sind, darfst du ihre Namen öffentlich nennen.» Ein Jahr später verunglückte Schnieper Junior bei einem Autounfall tödlich. Wer sich hinter Werther, Anna, Teddy oder Olga verborgen hat, ist trotz unzähliger Spekulationen bis heute nicht aufgeklärt, und auch die Frage, auf welchen Wegen die unzähligen Kassiber zu Rösslers Verlag nach Luzern geschleust wurden, ist ohne Antwort geblieben. Rudolf Rössler verstarb 1958 in Luzern so still, wie er gelebt hatte.

>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Spion Lucie» erschien am 10. Januar.
blog.nationalmuseum.ch/2022/01/meisterspion-rudolf-roessler
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3 Kommentare
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misssmith
16.01.2022 21:14registriert Dezember 2017
So spannend!! Bin in Kastanienbaum aufgewachsen, langweilige Landidylle, wenn ich gewusst hätte…:)
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