Im Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert», dem Überraschungsbestseller dieses Frühsommers, stellt Thomas Piketty die Rückkehr eines patriarchalischen Kapitalismus in Aussicht. Die Konzentration des Reichtums werde bald wieder einen ähnlich hohen Grad erreichen wie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, postuliert Piketty. Das würde eine extrem ungleiche Gesellschaft bedeuten. Den Superreichen in der Belle Époque gehörte praktisch alles.
Die beiden Weltkriege zerstörten einen grossen Teil der alten Vermögen. Deshalb war im Westen der Reichtum in der Mitte des 20. Jahrhunderts im historischen Vergleich relativ gleichmässig verteilt. Doch in den letzten drei Jahrzehnten haben die privaten Vermögen wieder gewaltig zugenommen, nicht nur in Europa, sondern vor allem auch in den Vereinigten Staaten.
Schuld daran ist das Aufkommen der «Supermanager», deren Gehälter und Boni geradezu explodiert sind und ein Hundertfaches der normalen Einkommen betragen.
Piketty spricht von einer «Hyperleistungs-Gesellschaft» und stellt fest: «Was heute die Vereinigten Staaten auszeichnet, ist ein Rekordunterschied bei den Einkommen aus Erwerbstätigkeit (wahrscheinlich ist dieser Unterschied grösser als in jeder Gesellschaft zu jedem Zeitpunkt der Geschichte und überall auf der Welt, selbst in Gesellschaften, in denen die Unterschiede in den Fähigkeiten sehr ausgeprägt waren)».
So weit zur Theorie. Was dies in der Praxis bedeutet, zeigt George Packer in seinem Buch «Die Abwicklung» auf. Der Journalist des Magazins «New Yorker» hat damit ein Werk verfasst, das schon kurz nach seiner Veröffentlichung mit Lobeshymnen und Auszeichnungen überschüttet worden ist, zu Recht. Deshalb vorneweg ein Tipp: Falls Sie noch Lektüre für die bevorstehenden Sommerferien benötigen, schnappen Sie sich «Die Abwicklung». Das Buch ist soeben auch auf Deutsch erschienen. Etwas Besseres werden Sie derzeit kaum finden.
Packer hat zwar ein Sachbuch geschrieben, es könnte jedoch genauso gut auch ein Roman sein. Nicht zufällig nennt er den Schriftstellter John Dos Passsos und dessen Trilogie «USA» als Vorbild.
Dos Passos zeichnet darin mit fiktiven Personen ein sehr realistisches Bild der Vereinigten Staaten des frühen 20. Jahrhunderts. Packer beschreibt mit realen Persönlichkeiten, wie sich die USA in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert haben, wie aus der solidarischen, «heroischen Generation» des Zweiten Weltkrieges eine egoistische, materialistische Gesellschaft wurde.
Dieser Wandel hat sich in kleinen, für sich genommen unscheinbaren Episoden abgespielt. Packer schildert dies nicht mit Pathos oder Moral, sondern mit Empathie und sprachlicher Brillanz. Wie Dos Passos verwebt er das Schicksal von verschiedenen Protagonisten über einen längeren Zeitraum miteinander.
Konkret sind das Dean Price, Sohn eines streng gläubigen Tabakbauern in North Carolina, der sich vom Tankstellenbesitzer zum Biodiesel-Unternehmer entwickelt und dabei die ganze Härte des amerikanischen Geschäftslebens zu spüren bekommt.
Jeff Connaughton deckt die politische Front ab. Er war zunächst Wahlhelfer und Berater des aktuellen Vize-Präsidenten Joe Biden, wurde danach hoch bezahlter Lobbyist und endet als mit Washington desillusionierter Autor eines Buches, in dem die fiesen Tricks der Banken während der Subprime-Krise aufgedeckt werden.
Die schwarze Fabrikarbeiterin Tammy Thomas schliesslich verkörpert den Niedergang der blue collar workers in Youngstown im Bundestaat Ohio. Ähnlich wie Detroit ist Youngstown von einer pulsierenden Industriestadt mit einem prosperierenden Mittelstand zu einer modernen Ruine verkommen, wo die Menschen keine Arbeit mehr haben, weil die Jobs nach China verlegt wurden, und wo Crack und Verbrechen allgegenwärtig geworden sind, weil die Menschen keine Perspektive mehr haben.
Die längeren Schilderungen dieser drei Protagonisten werden unterbrochen durch Kurzportraits von Figuren, welche die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte massgeblich mitgeprägt haben: Newt Gingrich, der in den 1980er Jahren der dominierende Ideologe der republikanischen Partei war und den harten Konfrontationsstil in Washington salonfähig gemacht hat.
Oder die TV-Legende Oprah Winfrey, der Detailhändler Sam Walton, der ehemalige Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte und Ex-Aussenminister Colin Powell, Robert Rubin, Ex-Chef von Goldman Sachs und der vielleicht bedeutendste Finanzminister seit Alexander Hamilton, der Rapper Jay-Z, der Schriftsteller Raymond Carver, die Radieschenkönigin Alice Waters, der verstorbene, faschistoide Blogger Andrew Breithart und Elizabeth Warren, der neue Politstar der Demokraten, die vielleicht Hillary Clinton noch in Bedrängnis bringen könnte.
Abgerundet wird das ganze durch die Schilderung von drei Regionen. Im Silicon Valley verkörpert der IT-Investor und Milliardär Peter Thiel die für diese Szene typische Mischung aus Technologie-Gläubigkeit und Staatsfeindlichkeit. Er hat zunächst als Co-Gründer des Internet-Bezahldienstes PayPal und später als Förderer von Facebook Milliarden verdient.
Thiel ist eine widersprüchliche Persönlichkeit, um es mild auszudrücken. Er ist gleichzeitig homosexuell, zutiefst religiös, ein grosser Fan der anarcho-libertären Schriftstellerin Ayn Rand – und abgrundtief pessimistisch, was die Zukunft betrifft.
«Wir haben all diese Internetfirmen geschaffen, und die Leute, die sie leiten, sind alle einigermassen autistisch», sagt er düster. «Wir haben die ziemlich kaputte reale Welt, in der alles immer schwieriger wird, und die Politik spielt verrückt, und es ist beinahe unmöglich, gute Leute in die wichtigsten Ämter zu wählen, das ganze System funktioniert nicht.»
Im Wall-Street-Kapitel setzt sich Packer mit den verschiedenen Facetten der Occupy-Bewegung auseinander. Am eindrücklichsten ist jedoch seine Schilderung von Tampa. Die Stadt an der Westküste von Florida ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Zersiedelung und hirnlose Städteplanung Gemeinschaften zerstören.
Tampa ist eine Stadt ohne Mittelpunkt, eine endlose Wüste ewig gleicher Einfamilienhäuser, deren Einwohner sich nicht kennen, unterbrochen einzig von immer gleichen Einkaufszentren, Tankstellen, Fastfood-Restaurants und riesigen Werbeschildern. Es gibt keine Strassencafés, keine Buchhandlungen und keine Plätze und Parks, die zum Verweilen einladen. Kurz: Es ist ein moderner urbaner Albtraum.
Tampa wurde nicht zufällig von der Subprime-Krise besonders hart getroffen. Hier wurden wahllos Häuser aus dem Boden gestampft, deren Wert sich zunächst in einer wilden Spekulationsblase in absurde Höhen steigerte, um danach ebenso rasant wieder abzustürzen. Die Schilderung der Art und Weise, wie die betroffenen Familien aus ihren Häusern vertrieben und wie die privaten Konkurse von Richtern geradezu industriell abgewickelt wurden, gehört zu den eindrücklichsten Stellen des Buches – die einen nachdenklich stimmen.
In Tampa lebt auch die Familie Hartzell, bestehend aus einem Vater, der als Hilfsarbeiter arbeitet, einer übergewichtigen Mutter und drei Kindern. Die Hartzells gehören der wachsenden Schar von Menschen in den Vereinigten Staaten an, die in prekären Verhältnissen leben. Sie haben keinen geregelten, anständig bezahlten Job und auch keine Aussicht darauf, je wieder einen zu erhalten.
Ihre Freizeit verbringen sie mit Computerspielen, ihr Essen bezahlen sie mit Food-Stamps. Ihr Leben ist geprägt von ständigen Umzügen und Unsicherheiten. Oder wie es eine Sozialarbeiterin formuliert: «Wir leben in einer Welt, wo ein platter Reifen oder ein nicht ausbezahlter Monatslohn die meisten Menschen an der Rand der Existenz bringen.»
«Reiche Leute sind anders», hat der amerikanische Schriftsteller Scott Fitzgerald («Der grosse Gatsby») einst gesagt. «Ja, sie haben mehr Geld», hat darauf Ernest Hemingway («Wem die Stunde schlägt») geantwortet. Das ist zwar witzig, aber falsch. Thomas Piketty zeigt die ökonomische Logik auf, die uns in eine neofeudale Welt mit riesigen Wohlstandsunterschieden zu führen droht.
George Packer schildert eindrücklich, was es bedeutet, in einer solchen Welt zu leben. Es ist nicht so, dass einzelne einfach ein bisschen mehr Geld haben. Es entsteht eine Gesellschaft, in der alle Verlierer sind, die Thiels im Silicon Valley genauso wie die Hartzells in Florida.
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)