Im Februar trat Bundesrat Guy Parmelin vor die Medien und präsentierte seinen «Aktionsplan Wohnungsknappheit» mit 35 Massnahmen. Die Reaktionen: allgemeine Enttäuschung.
Denn: Die Massnahmen sind nicht verpflichtend – weder für den Bund noch die Kantone, Gemeinden oder die Immobilien- und Baubranche. Es handelt sich um Empfehlungen. Und um schwammige noch dazu. Etwa: «Erarbeiten eines (freiwilligen) Standards für den Bau von preisgünstigem Wohnraum für gewinnorientierte Investoren und Investorinnen». Oder: «Prüfen einer Kostenauflage zur Vermeidung von verzögernden Einsprachen».
Augenwischerei sei der Aktionsplan, fand der Mieterverband. Und selbst der Schweizerische Städteverband (SSV) zeigte sich enttäuscht.
Dabei waren beide aktiv an der Ausarbeitung des Aktionsplans beteiligt. So kommunizierte es zumindest das zuständige Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) unter Parmelin. Was ist da schiefgelaufen?
Das wollte watson genauer wissen und verlangte mithilfe des Öffentlichkeitsgesetzes zahlreiche Protokolle, Entwürfe des Aktionsplans und E-Mails, die Parmelin und sein Departement mit Lobbyisten austauschten. Das Ergebnis: Der Aktionsplan fiel so ambitionslos aus, weil Parmelin von Anfang an den Ernst der Lage nicht anerkennen und es der Immobilien- und Baulobby recht machen wollte.
Startschuss zur Ausarbeitung des Aktionsplans war der 12. Mai 2023. Parmelin und das BWO luden zum ersten Runden Tisch, um über das Thema Wohnungsknappheit zu diskutieren.
Auf der Gästeliste: Sechs Vertreter des Bundes, der Kantone und Gemeinden, neun Verbände und Vereine, die die Interessen der Bau- und Immobilienbranche vertreten, und vier Parteien, die sich für die Zivilgesellschaft, Mieterinnen und Mieter einsetzen.
Ein Ungleichgewicht. Von Anfang an. Aber das allein hätte den Plan noch nicht zum Scheitern verurteilen müssen. Auch nicht die Tatsache, dass die Immobilienlobby während der Veranstaltung deutlich mehr Redezeit erhielt, in der sie sich über «querulantische Einsprachen», die den Bauprozess verlangsamten, und staatliche Regeln – etwa Lärmschutz – ausliess.
Der Ursprung des Übels manifestierte sich schon davor, wie aus dem Protokoll der Sitzung zu entnehmen ist. Dann, als Parmelin die zunehmenden Schwierigkeiten der Bevölkerung, bezahlbaren Wohnraum zu finden, mit folgenden Worten beschrieb:
Philippe Thalmann, Professor für Wohn- und Immobilienökonomie an der ETH Lausanne, stimmt Parmelins Aussage grundsätzlich zu: «2023 und 2024 waren im Langzeitvergleich und über die gesamte Schweiz tatsächlich keine aussergewöhnlichen Krisenjahre.» Aber: «Von einer Wohnungsknappheit würde ich trotzdem sprechen.»
Von einer bestehenden Wohnungsknappheit wollte Parmelin aber partout nicht sprechen. Der erste Entwurf des Aktionsplans trug denn auch den Namen: «Aktionsplan Wohnen».
Das Wort «Knappheit» kam erst in den Titel, als das Bundesamt für Umwelt (BAFU) darauf bestand.
Parmelins Widerwille, anzuerkennen, dass sich die Schweiz in einer Wohnungsknappheit befindet, blieb dennoch bis zum Schluss spürbar. Über den ganzen finalen Aktionsplan hinweg ist konsequent die Rede von einer «sich abzeichnenden Wohnungsknappheit». Nie von einer bestehenden.
Der Tenor ist damit klar: Noch ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Panik. Kein Grund, sofort zu handeln.
Am Ende des ersten Runden Tischs schlug Parmelin vor: Die Vertreter der drei staatlichen Ebenen – Bund, Kantone, Städte und Gemeinden – sollen den Aktionsplan mit konkreten Massnahmen in einer Arbeitsgruppe erarbeiten. Die internen Dokumente zeigen jedoch: Wirklich «ausgearbeitet» hat die Arbeitsgruppe den Aktionsplan nicht selbst. Das BWO nahm dies vor, basierend auf dem Feedback der Arbeitsgruppe, aber auch basierend auf den Forderungen, welche die Lobbyisten am ersten Runden Tisch formuliert hatten.
Im August 2023 legte es der Arbeitsgruppe einen ersten offiziellen Entwurf des Aktionsplans vor. Darin hatte das BWO die geforderten Massnahmen aller Parteien nicht nur ausformuliert, sondern auch gleich in drei Kategorien unterteilt. In «prioritäre», «nicht-prioritäre» und «nicht weiterverfolgte» Massnahmen.
Interessanterweise enthielt die erste Kategorie nur zwei Massnahmen zur Schaffung von günstigem Wohnraum, im Vergleich zu neun Massnahmen, die darauf abzielten, der Immobilien- und Baubranche das Bauen zu erleichtern und Bewilligungsverfahren zu beschleunigen. Gegebenenfalls auch, indem bauliche Vorgaben gelockert werden.
Die Arbeitsgruppe war mit diesem Entwurf ganz und gar nicht zufrieden. Sie wollte zahlreiche Massnahmen hinzufügen, verändern, umkategorisieren. Vor allem zugunsten der Zivilbevölkerung. Das zeigt das Beispiel der Massnahme, die auf Bundesebene eine Pflicht zur Bekanntgabe des Vormietzinses forderte.
Diese hatte das BWO in die Kategorie «nicht weiterverfolgte Massnahmen» verfrachtet. Die Begründung: «Diese Massnahme kann sich auf die Mietzinsentwicklung auswirken, trägt aber nicht zu mehr (preisgünstigen) Wohnungen bei.»
Mit dieser Argumentation waren viele in der Arbeitsgruppe nicht einverstanden. Nicht einmal das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE). Dieses kommentierte im Entwurf sogar: «Eventuell doch wieder in die Prioliste aufnehmen. Mehr Transparenz auf dem Markt ist immer gut und hat keine negativen Effekte.»
Die Kritik der Arbeitsgruppe zeigte Wirkung. Zumindest vorerst.
Im September legte das BWO einen überarbeiteten Entwurf vor, in dem es den Wünschen der Arbeitsgruppe grösstenteils nachkam. Mit diesem waren die Vertreterinnen und Vertreter der drei Bundesebenen grundsätzlich zufrieden.
Der Aktionsplan war damit aber noch nicht verabschiedet. Für Parmelin fehlte noch das entscheidende Feedback der Interessensvertreter. Und dieses sollte den Aktionsplan nochmals komplett verändern.
Mit dem Entwurf vom September 2023 im Gepäck lud das BWO am 27. November und 1. Dezember 2023 zu zwei «Gesprächsrunden». Geladen waren: 14 Verbände der Bau- und Immobilienbranche, sechs Verbände, die sich für die Interessen der Zivilbevölkerung, Mieterinnen und Mieter einsetzen, und zwei Teilnehmende, die nicht klar einer der beiden Kategorien zugeordnet werden können.
Dieses Verhältnis ist entscheidend. Denn das BWO bat seine geladenen Gäste darum, an einer anonymisierten Umfrage teilzunehmen. In dieser sollten sie auf einer Skala von 0 (= starke Zustimmung) bis 10 (= starke Ablehnung) angeben, was sie von den einzelnen, von der Arbeitsgruppe abgesegneten Massnahmen hielten.
Das wenig überraschende Ergebnis: Die stärkste Ablehnung erfuhren Massnahmen, die Forderungen an die Bau- und Immobilienbranche stellten, stärkere Kontrollen auf der Angebotsseite forderten oder gemeinnützigen, preisgünstigen Wohnraum fördern sollten.
Hat das Resultat dieser Umfrage in unausgewogener Runde den finalen Aktionsplan beeinflusst? Auf diese Frage antwortet das BWO gegenüber watson: Ja, «auch wenn sich dieser Einfluss nicht genau bemessen lässt».
Die Umfrage habe dazu gedient, «herauszufinden, wie die Massnahmen von den Interessensgruppen beurteilt werden, respektive wo sich die roten Linien befinden». Im Anschluss habe man bei den geladenen Interessensvertretern nachgefragt, «wie eine Massnahme verändert werden müsste, sodass sie akzeptabler würde».
Philippe Thalmann sieht diese Vorgehensweise des BWO kritisch: «Natürlich, wenn jede etwas einschneidende Massnahme in einem Nullsummenspiel einzeln verhandelt wird, dann wird eine Seite ihren Nachteil sehen und die Massnahmen verwerfen. Hätten unsere Vorfahren so gehandelt, gäbe es heute kein Mietrecht.»
Es passierte genau das, was Thalmann beschreibt. Das BWO verhandelte mit den Interessensvertretern über jede einzelne Massnahme. Wobei vor allem Vereine wie der Mieterverband oder Procap den Kürzeren zogen. Sie betonten ihre Zustimmung für den Aktionsplan, den die Arbeitsgruppe im September gutgeheissen hatte, die Wichtigkeit gewisser Massnahmen. Und das in einer einmaligen Mail oder bilateral bei einem Treffen.
Die Immobilien- und Baubranche hingegen liess das BWO seinen Unmut in zahlreichen E-Mails spüren. Wie genau, zeigt sich anhand zweier Massnahmen, auf die sich die Arbeitsgruppe zuvor geeinigt hatte.
Einerseits jene, die fordert, dass der Bund eine Gesetzesänderung vornimmt, die Vermieter dazu verpflichten würde, ihren neuen Mietern den Vormietzins anzugeben (C7). Andererseits die Massnahme, bei der Bund und Kantone eine Gesetzesänderung vornehmen müssten, die den Gemeinden und Kantonen ein Vorkaufsrecht zugunsten des gemeinnützigen Wohnungsbaus zusichern würde (C8).
Im finalen Aktionsplan ist nirgends mehr die Rede von diesen beiden Gesetzesänderungen. Sondern von einer «Prüfung», ob sich solche Gesetzesänderungen lohnen könnten. Das hatte sich die Immobilienlobby so gewünscht.
Doch diese Änderungen reichten noch nicht aus, um sie zufriedenzustellen.
In mehreren Mails ans BWO sprach sich die Immobilienlobby weiter gegen die beiden Massnahmen aus. Bis das BWO diese schliesslich in der Prioritätenliste von der Kategorie «empfohlene Massnahmen» herunterstufte. In eine Kategorie, die im Aktionsplan zunächst mit folgenden Worten eingeleitet würde:
Dieser Einleitungssatz passte der Immobilienlobby allerdings ebenfalls nicht. In einer Mail ans BWO schrieb die Vertreterin von Bauenschweiz etwa, dass ihr Verband nur unter einer Bedingung an der Pressekonferenz im Februar teilnehmen werde: Wenn klar ersichtlich sei, dass nicht alle Organisationen mit allen Massnahmen einverstanden seien. «Ich habe ‹Feuer im Dach›, wenn nur schon der Anschein entsteht, dass Bauenschweiz und seine Verbände C7 und C8 unterstützen.»
Ähnliches schrieb auch der Schweizerische Baumeisterverband (SBV): «Wir können uns als SBV und als Baubranche nicht hinter solche Massnahmen stellen.» Sowieso würde der Aktionsplan, so wie er nun ausgestaltet sei, sehr wahrscheinlich an eine «bürgerliche Wand» fahren.
Das BWO zeigte sich in seiner Antwort verständnisvoll: «Mit anderen Akteuren von bürgerlicher und Wirtschaftsseite habe ich über eine Anpassung des Einleitungssatzes diskutiert und zwar ungefähr in diesem Sinn: ‹Die folgenden Massnahmen werden nicht von allen Organisationen als geeignet betrachtet. Bei Bedarf entscheiden die zuständigen Akteure, ob sie weiterverfolgt werden.›»
Doch auch diese Formulierung stiess auf zu viel Gegenwind. Am Ende steht im Aktionsplan:
Auf diese Weise kann ein Kanton oder eine Gemeinde nicht einmal auf die Idee kommen, die beiden Massnahmen eigenständig umzusetzen.
Ausformuliert hat den Satz Bauenschweiz höchstpersönlich. Das BWO übernahm eins zu eins.
Das letzte Wort hatte die Bau- und Immobilienlobby.
Wie stark veränderte sich der Aktionsplan schliesslich insgesamt in dieser Phase, in der die Lobbyisten mit dem BWO «ihre roten Linien» verhandelten? Um diese Frage zu beantworten, hat watson den Entwurf vom September 2023 mit dem im Februar 2024 verabschiedeten Aktionsplan verglichen. Wort für Wort.
Dabei zeigte sich: Da und dort kam ein «freiwillig» oder ein «gegebenenfalls» bei der Formulierung einer Massnahme hinzu, verwandelte sich ein «wird verankert» zu einem «prüfen, ob verankert werden soll», verschwanden «Private» von der Liste der Akteure, die für die Umsetzung der Massnahme zuständig wären, oder gingen die Wörtchen «gemeinnütziger Wohnraum» verloren, die zuvor an eine Förderungsmassnahme der Bautätigkeit gekoppelt waren.
Der grösste Unterschied lässt sich jedoch in der Zielsetzung des Aktionsplans finden. In den beiden Entwürfen vom August und September 2023 stand noch: «Die Partner bekennen sich zu diesem Aktionsplan und verpflichten sich, die in ihrer Zuständigkeit liegenden Massnahmen und Aktivitäten umzusetzen.»
Von dieser Verpflichtung ist im finalen Aktionsplan nichts mehr zu lesen. Stattdessen steht:
Damit war die «Aktion» im Aktionsplan endgültig verschwunden.
Mehr Leute für die eine Seite einzuladen und dann abzustimmen ist ja schon frech. Und dann deren Revisionsvorschläge 1:1 zu übernehmen - wow!
Aber vermutlich ist es einfach zu viel erwartet, dass beim Politisieren mal etwas positives für die Mehrheit der Einwohner rauskommt.